Die Lieferung - Roman
übernachtete, bereit waren, einen Dreijährigen bei sich aufzunehmen.
Ihr Kopf tat weh. Sie konnte den Gedanken nicht klar zu Ende denken. Ihr war nicht wohl dabei, dass Darius Mikas hatte, aber jetzt wusste sie wenigstens, wo er war. Beziehungsweise bei wem.
»Es sah schrecklich aus, Schätzchen. Ich dachte, Sie wären tot! Dass Sie wirklich die ganze Nacht auf der Treppe gelegen
haben! Lassen Sie sich jetzt im Krankenhaus einmal verwöhnen, damit Sie richtig gesund werden.«
»Ja, danke. Auf Wiederhören, Frau Mažekienė.«
Sigita klappte das Handy zusammen. Es war nicht leicht gewesen, eines zu bekommen. Handys waren im Krankenhaus verboten. Und noch schwerer war es ihr gefallen, es mit auf die Toilette zu schmuggeln. Schließlich schaffte sie es noch immer nicht, zur Toilette zu gehen, ohne sich die ganze Zeit an der Wand abzustützen.
Dann holte sie das Handy noch einmal hervor und tippte mit dem rechten Daumen ungelenk Darius’ Nummer. Mit der eingegipsten Hand konnte sie das Handy kaum halten.
Seine Stimme klang nah, fröhlich und warm, auch wenn es nur dieser gestörte Anrufbeantworter war.
»Sie haben die Nummer von Darius Ramoška gewählt, aber, aber, aber … ich bin leider nicht da. Versuchen Sie es später noch einmal!«
Dieser Text passte wirklich unglaublich gut, dachte sie. Zur Geschichte seines Lebens, auf jeden Fall aber zu ihrer gemeinsamen Geschichte. Ich bin leider nicht da, versuchen Sie es später noch mal.
Sie hatten sich in dem Sommer ineinander verliebt, in dem sie die Grundschule abschloss und er in die zweite Klasse des Gymnasiums in Tauragė kam. In diesem Sommer war es außergewöhnlich heiß gewesen. Nur die kleinsten Kinder spielten in den Pausen auf dem aufgeweichten Teer des Schulhofs. Die älteren Schüler hockten an der zementgrauen Mauer, hatten sich Ärmel und Hosenbeine hochgekrempelt und redeten langsam wie Erwachsene miteinander.
»Fahrt ihr in die Ferien, Sigita?«
Die Frage kam von Milda, dabei wusste sie ganz genau, dass die Antwort Nein lautete.
»Vielleicht«, antwortete Sigita. »Wir haben noch nichts geplant.«
»Wir fahren nach Palanga«, sagte Daiva. »Wir haben da etwas in einem Hotel gebucht.«
»Tja«, warf Milda ein. »Und wir wollen nach Miami.«
Es wurde ringsherum still. Die Ehrfurcht und der Neid, die in der Luft lagen, waren beinahe so sichtbar wie das Flimmern der Hitze über dem Asphalt. Miami. Unerreichbar wie die Sterne. Ferien, das bedeutete vielleicht Daivas 14 Tage in einem Strandhotel in Palanga oder allenfalls, wenn es hochkam, eine Reise ans Schwarze Meer. Keiner in der Klasse war jemals weiter weg gewesen.
»Wirklich, bist du sicher?«, fragte Daiva.
»Klar bin ich sicher. Die Tickets sind bestellt.«
Niemand fragte, woher das Geld kam. Das wussten alle - Mildas Vater und ihr Onkel holten Gebrauchtwagen aus Deutschland, richteten sie wieder her und verkauften sie an die Russen. Wie gut dieses Geschäft war, hatte man erst an den neuen Kleidern der Kinder gesehen, dann an Mildas Fahrrad, dann an dem BMW, den sie selbst fuhren, und schließlich an dem neuen Haus, das sie außerhalb der Stadt gebaut hatten. Aber trotzdem - Miami.
»Ich würde lieber nach New York«, hörte Sigita sich selbst sagen. Und hätte sich gleich darauf am liebsten die Zunge abgebissen.
Milda lachte laut auf.
»Ja, aber dann sag deinem Vater doch, dass du nach New York möchtest«, rief sie. »Dann kauft er dir bestimmt gleich ein Flugticket … vorausgesetzt, er hat vorher seine Hemden verkauft.«
Sigita spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Diese verfluchten Hemden. Nahm das denn nie ein Ende? Nie?
Sie hingen überall in der Wohnung. Mehrere Tausend. Die
Sachen stammten aus einer stillgelegten Fabrik in Polen, wo ihr Vater sie »beinahe umsonst«, wie er immer beteuerte, erstanden hatte. Aber dieses »beinahe umsonst« war doch noch so teuer gewesen, dass sie ihr Auto hatten verkaufen müssen. Und auch wenn ihr Vater immer von der guten Qualität und dem klassischen Schnitt redete, hatte er kaum ein Hemd verkaufen können. Seit bald zwei Jahren hingen sie in ihren Plastikhüllen in der Wohnung: an Besenstielen und an in die Wand geschraubten Haken. Ja, sogar über dem Sofa, den Betten und über der Toilette. Fabrikneu. Freunde brachte sie schon lange nicht mehr mit nach Hause. Es war einfach zu peinlich. Allerdings noch nicht annähernd so schlimm, wie wenn er sie zwang, »Warenproben« mit in die Schule zu nehmen, um die Eltern
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