Die Lieferung - Roman
Watte: »Sigita! Sigita! Was ist denn passiert? Wo ist Mikas?«
Jetzt stand sie nicht mehr am Rand des Abgrunds. Sie war längst in die Tiefe gezogen worden. Denn wenn Darius Mikas nicht hatte, wer hatte ihn dann?
17.10 Uhr.
Wer sollte Anton heute holen? Nina konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern und spürte ein kaltes Ziehen im Magen. Sie hatte einen Arm um den Jungen gelegt und den nackten Körper an sich gedrückt. Seine Haare waren schweißverklebt. Auch seine Haut fühlte sich eine Spur wärmer an, und nach der Infusion schien er auch wieder ein bisschen aufzuleben. Nicht wach, aber lebendig. Er bewegte sich im Schlaf, drehte eine Hand oder zog sein Bein ein wenig an. Das ist bestimmt ein gutes Zeichen, dachte Nina. Es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn nicht ins Krankenhaus zu bringen. Eigentlich hatte sie das nie wirklich erwogen, nachdem sie die geballte Wut dieses Mannes auf dem Bahnhof gesehen hatte, aber trotzdem war die Erleichterung, die sie jetzt spürte, enorm. Der Junge war nicht tot. Er lebte, und an seinen zitternden Augenlidern erkannte sie, dass er die Dunkelheit, in der er gelegen hatte, bald verlassen würde.
Doch mit der Erleichterung kam auch die Panik. Was hatte sie sich nur gedacht, als sie aus dem Bahnhof geflohen war?
Nichts, konstatierte sie trocken und strich mit dem Finger über ihr Uhrenarmband. Sie hatte nur daran gedacht, möglichst schnell wegzukommen und ihn in Sicherheit zu bringen. Zum Dank würde sie es jetzt bald mit einem hellwachen, nackten kleinen Jungen zu tun haben. Nina hatte keine Ahnung, was sie mit ihm anstellen sollte. Sie brauchte dringend noch ein bisschen Bedenkzeit, dachte sie. Mit ihrer freien
Hand erreichte sie gerade eben ihren Rucksack, und nachdem sie etwas darin herumgewühlt hatte, gelang es ihr, ihr Handy auszugraben und Mortens Nummer zu wählen. Glücklicherweise war er diese Woche zu Hause. Er musste sich zu Hause um alles kümmern, bis …
Sie wartete ein paar Sekunden, bevor sie die Anruftaste drückte. Machte sich so weit bereit, wie es ihr in dieser Situation möglich war. Sie hatte Morten nie richtig anlügen können, hatte es nie gelernt, obwohl sie es im Laufe der Zeit so oft probiert hatte. Die wirklich wichtigen Dinge hatte sie ihm zwar nie vorenthalten wollen. Wohl aber einen Teil der kleinen, alltäglichen Sachen, die mit einer Lüge einfach leichter zu ertragen waren. So behauptete sie zum Beispiel, dass eine Bluse nicht 450, sondern 200 Kronen gekostet hatte, oder dass sie den Anmeldezettel für die Waldexkursion in Antons Hort nicht vergessen hatte. Solche Lügen, die andere Leute ohne Probleme über die Lippen brachten und die auch ihr im Umgang mit anderen Menschen leichtfielen. Nur Morten durchschaute ihre schüchternen Versuche bereits im Ansatz. In seiner Gegenwart schien ihr jede Schutzschicht zu fehlen. Als könnte er die Gedanken hinter ihren Augen sehen. Aus genau diesem Grund hatte sie sich auch in ihn verliebt, doch deshalb war es jetzt so schwer, mit ihm zusammenzuleben. Manchmal kam es trotzdem vor, dass sie ihn anlog, ohne dass er reagierte - wenngleich sie in diesen Momenten wohl nur deshalb davonkam, weil er die Diskussionen vermeiden wollte.
Nina fuhr mit dem Zeigefinger prüfend über die Anruftaste, die von der Wärme ihrer Hände schon ganz feucht war. Dann drückte sie darauf und hob das Handy hoch, vorsichtig, damit sie den Jungen nicht anstieß.
Es klickte leise, dann folgte knisternde Unruhe. Sie hörte Morten mit dem Telefon hantieren und im Hintergrund Kinderstimmen.
Gott sei Dank, dachte Nina. Er war also im Hort. Vielleicht war er heute ohnehin mit dem Abholen an der Reihe. Ihr Hirn war seltsam leer, als sie sich zu erinnern versuchte.
»Ja.«
Mortens Stimme klang wütend und resigniert.
»Wo bist du?«
Es war die Stimme eines Mannes, der der Meinung zu sein schien, dass sie keine normale Tonlage mehr verdiente, dachte Nina. Als wäre sie ein Kind.
Nina befeuchtete die Lippen und ließ ihren Blick über den Jungen in ihrem Arm gleiten. Sie musste irgendetwas erfinden, das der Wahrheit so nahe wie möglich kam, sonst würde er ihre Erklärung in der Luft zerreißen, noch ehe sie richtig begonnen hatte.
»Karin hat mich heute Morgen angerufen«, sagte sie. »Sie brauchte Hilfe. Ich bin bei ihr geblieben, um sie in die Klinik zu fahren, falls nötig.«
Am anderen Ende der Leitung war es still. Dann hörte sie erneutes Rufen, gefolgt von Antons dünner Stimme, der irgendetwas
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