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Die Lieferung - Roman

Die Lieferung - Roman

Titel: Die Lieferung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Ihr Mann Mikas entführt hat?«
    Evaldas Gužas von der Vermisstenstelle sah Sigita mit unverhohlener Skepsis an.
    »Wir leben getrennt«, sagte sie.
    »Aber er ist der Vater des Kindes?«
    Sie spürte, dass sie rot wurde. »Natürlich.«
    Es war warm in der Wache, und eine Fliege, die zwischen Insektennetz und Scheiben gefangen war, versuchte verzweifelt durch das Fenster nach draußen zu gelangen.
    Gužas’ Schreibtisch glich einem vernarbten Veteranen aus der Sowjetzeit und schien viele Jahre älter zu sein als er selbst. Sigita hätte einen älteren Beamten vorgezogen, nicht diesen jungen schwarzhaarigen Kerl Anfang 30. Er hatte wegen der Wärme die blaugraue Jacke abgelegt und den bordeauxroten Schlips gelockert. Das war nicht seriös, fand sie.
    »Und diese Entführung, wie Sie das nennen … die soll also am Samstag geschehen sein?«
    »Am Samstagnachmittag, ja.«
    »Und dass Sie sich erst jetzt melden, liegt daran, dass …?«
    Er beendete den Satz ganz bewusst nicht.
    Sie hätte am liebsten zu Boden geblickt, zwang sich aber, ihn weiter anzusehen. Wenn er ihre Unsicherheit erkannte, würde er nur noch stärker an ihrer Aussage zweifeln.
    »Ich war im Krankenhaus und bin erst heute Morgen entlassen worden.«

    »Ah ja. Können Sie mir die genaueren Umstände dieser Entführung beschreiben?«, fragte er.
    »Meine Nachbarin hat meinen Mann und eine fremde junge Frau mit Mikas zu einem Auto gehen sehen. Sie haben ihn auf die Rückbank gesetzt und sind weggefahren.«
    »Hat das Kind Widerstand geleistet?«
    »Nein … also, Frau Mažekienė hat nichts Derartiges gesehen. Aber verstehen Sie doch, diese Frau scheint uns schon eine ganze Weile ausspioniert zu haben, auf jeden Fall ein paar Tage, und sie hat Mikas Schokolade gegeben. Das ist doch nicht normal!«
    Er klickte ein paarmal mit seinem Kugelschreiber, während er sie musterte.
    »Wo waren Sie selbst, als das passiert ist?«, fragte er dann.
    Jetzt konnte sie ihre Unsicherheit nicht mehr überspielen.
    »Ich … ich erinnere mich nicht mehr genau«, sagte sie. »Ich habe eine Gehirnerschütterung. Vielleicht … vielleicht haben sie mich überfallen.«
    Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Es klang falsch, denn sie glaubte selbst nicht daran, dass Darius zu so etwas imstande wäre. Aber diese Frau. Die Frau kannte sie ja nicht.
    »Und in welchem Krankenhaus waren Sie?«
    Das Herz rutschte ihr in den Bauch. »Vilkpėdės«, sagte sie und hoffte, dass er nicht weiter nachhakte. Aber er griff nach dem Telefon.
    »Abteilung?«
    »M1.«
    Sie saß auf dem unbequemen Plastikstuhl und wartete frustriert und machtlos, während er telefonierte. Die Fliege summte und brummte. Gužas hörte die meiste Zeit bloß zu, und sie wusste nur zu gut, was er zu hören bekam.
    »Frau Ramoškienė …«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte.
»Glauben Sie nicht, es wäre besser, nach Hause zu gehen und darauf zu warten, dass Ihr Mann anruft?«
    »Ich trinke nicht!« Die Worte pressten sich über ihre Lippen, obgleich sie genau wusste, dass dieser Protest seinen Verdacht nur noch erhärtete.
    »Gehen Sie nach Hause, Frau Ramoškienė.«
     
    Mechanisch bestieg sie in der Ševčenkos gatvė den Bus Nummer 17. Erst einige Haltestellen später wurde ihr bewusst, dass sie versäumt hatte, in der Aguonų gatvė umzusteigen. Fast war es so, als wäre ihr die Stadt, in der sie seit nunmehr acht Jahren lebte, fremd geworden, als wüsste sie nicht mehr, wo sie hinfahren musste. Die Sonnenstrahlen schmerzten wie Nadelstiche in den Augen. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt.
    Gehen Sie nach Hause, Frau Ramoškienė . Nach Hause zu wem? Ohne Mikas war das alles völlig sinnlos, die Wohnung und die Möbel, all das Neue, Reine, für das sie so gekämpft hatte.
    Das ist die Strafe Gottes, flüsterte ihr eine innere Stimme zu.
    »Halt den Mund«, erwiderte sie halblaut, aber ohne Erfolg.
    Sie war nicht mehr in die Messe gegangen, seit sie Tauragė verlassen hatte. Nicht ein einziges Mal in acht Jahren. Sie wollte nicht an Gott glauben, aber irgendwie schien sie die Erinnerung nicht loszulassen - der Duft der Kerzen, die alten Frauen, die sich kaum mehr hinknien konnten, es aber trotzdem taten, die Blumen am Altar, die festliche Stimmung, die sie immer ganz still werden ließ, sogar damals, als sie noch so klein war, dass sie mit baumelnden Beinen, weißen Strumpfhosen und schwarzen Lackschuhen auf der Kirchenbank saß. Dieses eine Mal in der Woche sollte sie

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