Die Lieferung - Roman
wenigstens hübsch angezogen sein, hatte ihre Mutter immer gesagt. Wie groß sie
sich gefühlt hatte, als sie das erste Mal zur Beichte ging … wie erwachsen, wie wichtig. Sie war alt genug, um zu sündigen . Das Wort entfaltete sich in ihr mit einem Duft von Finsternis und Schwefel, Schuld und Verdammnis, und vor allem Spannung . Dann musste sie immer an Mutters Schwester denken, Tante Jolita, die in Vilnius wohnte und über die keiner reden wollte. Sünder waren interessanter als gewöhnliche Leute, das stand sogar in der Bibel. Und jetzt stand auch ihr diese Welt aus Sünden und Bekenntnissen offen. Es war ein beinahe berauschendes Gefühl, gemeinsam mit der ganzen Gemeinde zu murmeln »Esu kaltas, esu kaltas, esu labai kaltas«. Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine größte Schuld. Sie trug dabei richtig dick auf.
»Pst«, sagte ihre Mutter. »Nicht so laut.«
Mit der Zeit lernte sie das richtige Maß - nicht selbstbekennend laut und schrill, aber auch nicht zu leise und zurückhaltend; ein inbrünstiges Murmeln, das von den Umstehenden gehört werden konnte, nicht aber durch die ganze Kirche hallte. Esu kaltas. Welche Schönheit darin lag, welche Süße.
So war es bis zu dem Tag gewesen, als sie dort saß und tatsächlich etwas zu beichten hatte. Da brachte sie kein Wort mehr heraus. Zuerst hatte sie es mit dem üblichen Teenagertrotz versucht und gesagt, sie wolle nicht mit. Wäre es nur nach ihrer Mutter gegangen, hätte sie vielleicht Erfolg gehabt. Aber als Großmutter Julija sie ansah und fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, kollabierte ihr zarter Versuch des Widerstandes. Nein, es war alles in Ordnung. Wirklich. Großmutter Julija hatte ihren Arm getätschelt und sie ein gutes Mädchen genannt. Es macht nichts, dass man manchmal zweifelt, sagte sie. Gott versteht das. Und dann musste Sigita schnell ihre Sonntagskleider anziehen, damit sie nicht zu spät kamen. Draußen war alles wie immer. Doch in ihrem Inneren war die Welt in Stücke gegangen.
Im Inneren von St. Kazimiero war es still und fast leer. Zwei ältere Frauen putzten. Sicher ehrenamtliche Arbeit, wie damals zu Hause in Tauragė, dachte Sigita. Eine der beiden erkundigte sich, ob sie ihr irgendwie behilflich sein könnte.
»Nein, danke«, sagte Sigita. »Ich möchte hier nur einen Moment sitzen.«
Sie nickten verständnisvoll. Jeder gläubige Mensch hatte Verständnis dafür. Sigita fühlte sich wie eine Betrügerin. Sie war kein gläubiger Mensch.
Was machst du dann hier?, fragte eine innere Stimme sie.
Sie konnte es nicht erklären. Sie hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrundes zu stehen, aber sie war nicht hier, weil sie damit rechnete, dass Gott sie in Sicherheit bringen würde. Im Gegenteil. Ich glaube doch nicht daran. Nicht mehr. Aber als sie zum Bildnis der Jungfrau Maria aufblickte, konnte sie es nicht mehr zurückhalten. Die Madonna hielt das kleine Jesuskind, und ihr Gesicht strahlte vor Liebe. Sigita fiel auf den kalten Fliesen auf die Knie, stützte ihren gesunden Arm auf eine Marmorsäule und begann so heftig zu weinen, dass ihr unfreiwilliges Schluchzen in der ganzen Kirche zu hören war. Esu kaltas. Esu kaltas. Esu labai kaltas.
Sie hatte die Kirche gerade erst verlassen, als ihr Handy in der Tasche vibrierte, die an ihrem Gipsarm hing. Sie suchte es so hastig mit der gesunden Hand heraus, dass Geld, Make-up-Täschchen und Halsschmerztabletten auf den Bürgersteig fielen und um ihre Füße rollten. Sie sah nur das Handy. Es war Darius, der sie zurückrief.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte er mit seiner warmen Stimme und klang fröhlich wie immer. »Du hast bestimmt eine Million Mal angerufen.«
»Du musst ihn nach Hause bringen, jetzt!«, rief sie aufgewühlt.
»Wovon redest du?«
»Mikas! Wenn du nicht sofort mit ihm nach Hause kommst, zeige ich dich bei der Polizei an.« Sie verschwieg ihm bewusst, dass sie das bereits getan hatte. Auch wenn ihr der Beamte nicht wirklich zugehört hatte.
»Sigita, Schatz, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Was ist mit Mikas?«
Jahrelange Übung hatte sie zu einer Expertin werden lassen. Inzwischen hörte sie ihm an, ob er log oder die Wahrheit sagte. Und die Verwirrung in seiner Stimme klang hundertprozentig echt.
Die Kraft wich aus ihren Beinen wie das Wasser aus einer Badewanne, so dass sie zwischen den Gegenständen aus ihrer Handtasche mitten auf dem Bürgersteig auf die Knie sackte.
Sie hörte Darius’ Stimme gedämpft, wie durch
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