Die Lieferung - Roman
Herde zurückzieht.
Das viele Blut.
Nina versuchte sich einzureden, dass sie keine Probleme mit Blut hatte. Sie wollte sich selbst beruhigen. Blut machte ihr überhaupt nichts aus. Bei der Krankenschwesternausbildung war sie eine der Besten gewesen, wenn es um den Umgang mit Körperflüssigkeiten ging. (Seit jenem Tag vor 23 Jahren. Oder zumindest eine Weile danach. Weil sie irgendwann beschlossen hatte, absolut keine Probleme mit Blut zu haben.)
Nina trat einen Schritt zurück und schaffte es gerade noch, sich vom Bett wegzudrehen, ehe sie sich in kurzen, schmerzhaften Krämpfen übergeben musste. Sie hatte seit dem Vormittag
nichts mehr gegessen, so dass nichts als braungelbe Galle auf dem Holzboden landete.
Dann hörte sie den Schrei. Laut und herzzerreißend, wie wenn ein Hase von einem Fuchs gefangen wird.
Sigita saß auf den steinernen Stufen unten am Fluss und wartete, bis Kopfschmerzen und Übelkeit wenigstens so weit nachließen, dass sie wieder aufstehen konnte. Die Finger ihrer gesunden Hand umklammerten ihr Handy. Es sollte jetzt endlich klingeln. Klingeln und ihr mitteilen, dass Mikas gefunden worden war. Oder ihr wenigstens die Gewissheit geben, dass er nicht zu der »anderen« Kategorie gehörte, von der Gužas gesprochen hatte. Zu denen, die nie gefunden wurden.
Nein. Nicht daran denken. Nicht daran denken, was fremde Menschen einem kleinen Kinderkörper antun konnten. Auf diesen Gedanken durfte sie sich nicht einlassen. Sie befürchtete, es noch wirklicher zu machen, wenn sie daran dachte. Und daran würde sie zerbrechen, das würde ihr das Herz zerreißen, sie lähmen und handlungsunfähig machen. Sie klammerte sich an das Handy wie ein erschöpfter Schwimmer an die Rettungsleiter.
Aber es klingelte nicht. Zu guter Letzt wählte sie selbst eine Nummer. Die von Frau Mažekienė.
»Frau Mažekienė, der Mann, der Mikas abgeholt hat - wie sah der aus?«
Die Verwirrung der alten Dame war deutlich zu hören, sogar am Telefon.
»Wie er ausgesehen hat? Ja, aber… das war doch sein Vater.«
»Nein, Frau Mažekienė, das war nicht sein Vater. Darius war die ganze Zeit in Deutschland.«
Es wurde vollkommen still.
»Ich habe noch gedacht, dass er zugenommen hat. Er sah irgendwie größer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte.«
»Wie groß?«
»Ich weiß nicht … groß und breit, ja, wenn ich jetzt darüber nachdenke, wirklich groß und kräftig. Und die Haare so kurz geschoren, dass man sie fast nicht mehr sah. Aber das soll jetzt ja modern sein.«
»Warum glaubten Sie, dass es Mikas’ Vater ist?«
»Wegen dem Auto. Es sah so ähnlich aus. Und wer sollte den Jungen denn sonst holen?«
Sigita biss sich fest auf die Lippe, um nicht etwas Unverzeihliches zu sagen. Sie ist eine alte Frau, ermahnte sie sich selbst. Sie hat es nicht mit böser Absicht getan. Aber zugleich wusste Sigita, dass sie es Frau Mažekienė niemals würde vergeben können, wegen ihr fast zwei Tage verloren zu haben.
»Wie sah das Auto aus?«, fragte sie, als sie sich wieder etwas besser unter Kontrolle hatte.
»Es war grau«, antwortete Frau Mažekienė vage.
»Und was für eine Marke?« Sie wusste ganz genau, dass sie auf diese Frage keine Antwort bekommen würde.
»Ich kenne mich mit Autos nicht so aus«, erwiderte Frau Mažekienė hilflos. »Es sah … ganz normal aus. Wie das von Mikas’ Vater eben.«
Als Sigita Darius das letzte Mal gesehen hatte, hatte er einen dunkelgrauen Grand Vitara gefahren. Vermutlich handelte es sich also um ein graues Allradfahrzeug oder einen Kombi. Vielleicht sogar um einen Lieferwagen. Wenn Frau Mažekienė in der Lage war, den schmächtigen Darius mit jemand zu verwechseln, dessen Beschreibung an einen kahlköpfigen Türsteher erinnerte, war es vermessen anzunehmen, sie könne ein Allradfahrzeug von einem Peugeot Partner unterscheiden, dachte Sigita frustriert. Dieser Hinweis war also nicht viel wert.
»Da war so eine Gepäckbox auf dem Dach«, sagte Frau Mažekienė auf einmal. »Daran erinnere ich mich!«
Der älteste Sohn des alten Dobrovolskij fuhr einen silbernen Porsche Cayenne. Der ähnelte dem Vitara wie ein Shetlandpony einem Brauereipferd, und überdies hatte sie diesen Wagen auch noch nie mit einer Gepäckbox gesehen. Trotzdem rief sie Algirdas an.
»Hallo«, sagte er. »Geht es Ihnen besser?«
Sie blieb ihm eine Antwort auf die Frage schuldig.
»Wie lief es mit Dobrovolskij?«, fragte sie stattdessen.
»Einigermaßen. Er war nicht gerade erbaut, dass Sie
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