Die Lieferung - Roman
dass sie nicht nach Hause zu kommen bräuchte, oder? Nina konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, was er eigentlich gesagt hatte.
Oder hatte er sie gebeten, nach Hause zu kommen?
Unwahrscheinlich. Nina spürte, wie sich von ihrem Brustkorb bis in den Unterleib eine reine, kalte Ruhe ausbreitete.
Morten wurde nicht oft sauer.
Manchmal dachte sie, dass er etwas von diesen großen, gutmütigen Hunden hatte, die sich tagein, tagaus geduldig in die Ohren kneifen oder am Schwanz ziehen lassen. Und die man ohne jeden Zweifel für die liebsten Hunde der Welt hält, bis sie eines Tages zum geifernden Monster mutieren und den nervigen siebenjährigen Nachbarsjungen anfallen.
Nina bekam regelrecht Angst vor Morten, wenn er wütend wurde. Besonders, wenn sein Zorn sich auf die ganze Welt richtete, auch wenn es ursprünglich meistens sie war, die seinen Zorn entfachte. Bei ihren schlimmsten Streitereien war er Anton und Ida gegenüber plötzlich kalt und abweisend. Als wären sie ein Teil von ihr, den er plötzlich nicht mehr ertragen konnte.
An diesen sehr, sehr seltenen Tagen konnte Morten Anton kaum in seiner Nähe ertragen, und er forderte Ida auf, den Fernseher in ihrem Zimmer auszuschalten, nur weil es ihm ein Dorn im Auge war, dass er lief.
Nina sah ihn vor sich, wie er in diesem Moment alleine im Wohnzimmer saß, den Laptop auf dem niedrigen Couchtisch vor ihm aufgeklappt, rastlos durch Job-Portale, Trecking-Seiten und Reiseseiten surfend, auf der Suche nach billigen Flügen nach Borneo oder Novosibirsk. Egal was, Hauptsache, es hatte den Duft eines Lebens ohne sie.
Sie bekam eine Gänsehaut, obwohl es im Auto nach dem brütend heißen Tag noch immer drückend warm war. Was sollte sie jetzt tun? Von Karin würde sie nichts mehr erfahren - abgesehen von dem wenigen, was sie bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte, und das war so gut wie gar nichts.
In der Höhe von Farum bog sie vom Hillerødsvej ab und hielt an einer Q8-Tankstelle. Sie wandte sich dem Jungen zu und sah ihn an. Er hatte die Augen geschlossen und lag wie ein Kleiderbündel an die Beifahrertür gedrückt. Er muss völlig erschöpft sein, dachte sie.
Sie könnte in wenigen Minuten im Kulhuslager sein. Und dann?, dachte sie. Sollte sie ihn in eins der kleinen hellblauen Bettchen in Ellens Hof legen? Und an seiner Seite wachen und hoffen, dass der Mann vom Hauptbahnhof ihn nicht fand?
Karin hatte er bereits gefunden. Davon war sie überzeugt. Es hatte Karin offenbar nichts genützt, von ihrem Arbeitgeber und der hübschen Wohnung mit Meerblick in ein kleines rotes Sommerhaus an der Nordküste zu flüchten.
Der Junge bewegte sich nicht, als sie aus dem Auto stieg. Sie schloss die Tür so leise wie möglich, um ihn nicht zu wecken, und ging zum Tankstellenshop. Auf der einen Seite der Tür stand eine Palette Anmachholz, auf der anderen ein riesiger
Metallkorb mit Sprühflaschen, deren Inhalt besonders effektiv gegen Insektenleichen auf der Windschutzscheibe helfen sollte. Ihr kam es komplett absurd vor, dass es Leute gab, die sich für so etwas interessierten.
Der viel zu junge Verkäufer musterte sie mit dem leicht gehetzten Blick, den man oft bei Kioskpersonal nach Einbruch der Dunkelheit findet: Ist es jetzt so weit? Wird es jetzt ungemütlich, hält mir jetzt jemand eine Waffe an die Schläfe und fordert mich auf, die Kasse zu öffnen? Es schien ihn schlagartig zu beruhigen, dass sie weiblichen Geschlechts war, und sie versuchte sich obendrein an einem entwaffnenden Lächeln, das aber wohl mehr eine Grimasse war.
Verdammt, schoss es ihr durch den Kopf. Ich habe noch immer Blut an den Händen. Womöglich auch an meinem T-Shirt. Nina, wo bist du mit deinen Gedanken? Sie steckte instinktiv die Hände in die Hosentaschen und fragte den Verkäufer, ob sie kurz telefonieren könnte und wo die Toilette war.
Der junge Mann führte sie freundlich in einen schmalen Anbau im hinteren Teil des Ladens.
Sie ging zuerst in die Toilette, um die letzten rostbraunen Ränder unter den Fingernägeln und in den feinen Falten über den Fingerknöcheln wegzuschrubben. Das T-Shirt hatte wie durch ein Wunder keine Flecken abbekommen. Sie hatte nicht die Geduld, ihre Hände unter der Warmluft zu trocknen, und wischte sie stattdessen an ihrer Jeans ab.
Jetzt das Telefon.
Sie wählte die Nummer der Polizei Nord-Seeland, die freundlicherweise neben dem Apparat notiert war, zusammen mit der Nummer des örtlichen Taxiunternehmens, dem diensthabenden Arzt und
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