Die Lieferung - Roman
geht.«
Nina holte tief Luft, ehe sie antwortete.
»Es geht mir gut«, sagte sie. »Aber ich werde heute wohl noch nicht zurückkommen. Würdest du Morten bitte mitteilen, dass bei mir alles in Ordnung ist und er sich keine Sorgen machen soll?«
Magnus reagierte zuerst nicht, und Nina hörte nur seinen schweren Atem.
»Wenn du nicht schon tot bist, soll ich dir ausrichten …«, Magnus zögerte und dämpfte die Stimme so sehr, dass Nina nicht sicher war, ob er noch da war.
»… dann soll ich dir ausrichten, dass dies das letzte Mal war. Wenn du lebend wieder nach Hause kommst, war es das letzte Mal.«
Nina spürte eine kleine Explosion in der Brust. Sie hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg, während sie versuchte, ihre Stimme wieder in den Griff zu bekommen.
»Nicht schon tot …« Sie lachte ein abgehacktes, kurzes Lachen. »Morten hatte schon immer einen Hang zum Drama. Wieso sollte ich denn tot sein? Es geht mir gut. Ich muss nur noch was erledigen.«
Magnus grunzte leise und klang nun zum ersten Mal richtig zornig.
»Ist gut, Nina. Wenn du von niemand Hilfe annehmen willst, ist das deine Entscheidung. Aber Morten ist völlig fertig mit den Nerven. Er hat gesagt, die Polizei hätte dein Handy gefunden.«
Ein kalter, klammer Hauch strich Nina über den Rücken, als er das sagte.
Sie knallte den Hörer so resolut auf, dass der Barkeeper aus der Grotte vielsagend eine Augenbraue hochzog und die zwei Stammgäste am Ende der Bar wissend angrinste. Nina war das alles egal. Sie packte den Jungen, der ganz in ein altes Tischfußballspiel neben der Tür vertieft war, ungeduldig am Arm. Er protestierte vehement, als sie ihn zum Auto
zerrte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie startete den Wagen, bog auf den Halmtorv ein und fuhr Richtung Stenosgade, wobei sie den Sekundenzeiger auf ihrer Armbanduhr nicht aus den Augen ließ. 13, 14, 15.
Irritiert stellte sie fest, dass sie die Lippen bewegte, während sie auf die Uhr guckte: Sie zählte mit. Wie schwachsinnig konnte man eigentlich sein?
Na ja, schwachsinnig war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, geisteskrank traf es wohl eher. Geisteskrank oder zumindest ein bisschen gaga. (Daran ließ sich nicht rütteln. Vielleicht bist du ja so gaga, dass du es mit Absicht getan hast.)
Sie parkte direkt vor der Kirche, halb auf dem Bürgersteig, in einer schmalen Lücke. Der Junge starrte aus dem Fenster und weigerte sich, sie anzusehen. Die Vertrautheit vom Morgen in der Badeanstalt war verschwunden; offensichtlich hatte er ihr die grobe Behandlung nicht verziehen.
Die digitalen Ziffern auf dem Armaturenbrett flimmerten im Sonnenlicht, als sie sich mit einer Flasche Wasser in der einen und einem Brötchen in der anderen Hand zurücklehnte. Hunger hatte sie keinen, aber sie kannte diesen Zustand der Erschöpfung von den langen, appetitlosen Tagen in den viel zu heißen Lagern in Dadaab. Wenn sie jetzt nichts aß, würde sie bald nicht mehr in der Lage sein, einen einzigen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Sie nahm winzige Bissen, kaute gründlich und spülte mit ein paar Schlucken von dem lauwarmen Wasser nach, das auf dem Boden im Auto gelegen hatte. Danach öffnete sie die Fahrertür und trat auf den glühend heißen Bürgersteig.
Herz-Jesu-Kirche, Sacred Heart, Sacré Cœur. Die englische und die französische Übersetzung standen in etwas kleineren Lettern auf dem diskreten Namensschild an der Mauer. Der schwülstige Name war typisch katholisch. Nina ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen, sie waren ebenso schön wie
nichtssagend. Sicher war das litauische Mädchen katholisch. Woher sonst sollte sie diese Kirche in der Stenosgade kennen?
Um 17 Uhr wurde eine Messe abgehalten, sah sie im Schaukasten, aber noch waren die Tür und die gusseiserne Pforte davor verschlossen.
Nina setzte sich wieder ins Auto und betrachtete die Kirche mit einem gewissen Unbehagen. Sie sah aus wie die meisten Stadtkirchen in Kopenhagen: roter Backstein, ein paar schlanke Türme und ein großes, schweres Kirchenschiff, das zwischen den Wohnblocks eingeklemmt war. Um die Domkirche in Viborg war viel mehr Platz, und um die kleinen, weiß gekalkten Kirchen auf dem Land.
(Geh nun hin und grab mein Grab)
Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Helgolandsgade. Wenn das Mädchen kam, würde Nina versuchen, ein paar Stunden ihrer Zeit zu kaufen. Sie drehte sich zur Rückbank um, wo der Junge noch immer jeden Blickkontakt verweigerte. Auf der
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