Die Lieferung - Roman
war. Er durfte das nicht auf die leichte Schulter nehmen, es als unwichtig abtun, so tun, als hätte es keine Bedeutung. Es war keine Routine, wenn einer der Firmenwagen verschwand. Dieser verfluchte Bahnmensch hatte ihm den Teppich unter den Füßen weggezogen, und es gab keine Rettungsleine, an die er sich klammern konnte.
»Es sieht so aus, als bräuchten Sie ein wenig Bedenkzeit«, meinte Anders Kvistgård. »Möchten Sie vielleicht einen Anwalt anrufen? Ich muss Sie nämlich hiermit auf Ihre Rechte in der weiteren Vernehmung hinweisen. Sie gelten ab jetzt als Tatverdächtiger.«
Es waren kaum Badegäste im Strandpark, obgleich die Hitze nach wie vor drückend über Kopenhagen lag. Die wochenlang andauernde Wärme und Trockenheit hatten den Kopenhagenern offensichtlich genügend Gelegenheit gegeben, ihr Bedürfnis nach Strandleben und Verbrennungen ersten Grades zu stillen, dachte Nina. An dem kleinen Strandabschnitt, für den sie sich entschieden hatte, lagen ein paar träge Studenten auf viel zu kleinen Handtüchern mit aufgeschlagenen Büchern im Sand. Ansonsten hatten sie nur einen Inlineskater gesehen, einen jungen Mann, der schwitzend und mit sonnenverbrannten Schultern in einem ärmellosen T-Shirt fast den Jungen umgefahren hätte, als er die Straßenseite wechselte.
Sie saßen auf neuen, weichen Handtüchern und schauten aufs spiegelblanke Meer. Es regte sich kein Lüftchen, und das Wasser schob sich mit flachen und lautlosen Wellen zäh über den Sand. Das Schweigen zwischen ihnen wurde allmählich auffällig, dachte Nina. Der Junge saß stumm und mit gesenktem Kopf da und ließ mit mechanischen Bewegungen Sand durch seine kurzen Finger rieseln. Daneben lag Marija, auf die Unterarme gestützt, mit halb geschlossenen Augen hinter der neu erstandenen Sonnenbrille, das Gesicht der brütenden Nachmittagssonne zugewendet. Sie hatte die lange, eng sitzende Jeans neben sich in den Sand geworfen und offenbarte in der Verlängerung des knappen T-Shirts ein paar schlanke, weiße Beine. Sie hatte nicht viel gesagt, seit sie zu Nina
und dem Jungen ins Auto gestiegen war. Der Ausflug an den Strand war für sie okay, aber dann brauchte sie ein Handtuch, Sonnencreme, eine Sonnenbrille und einen Bikini. Nina, die einen Moment das Gefühl hatte, mit ihrer mürrischen Teenagertochter zu verhandeln, hatte einen Kompromiss durchgesetzt, der auf Handtuch, Sonnencreme und Sonnenbrille hinauslief. In der Amagerbrogade fanden sie eine Matas-Drogerie, die alles vorrätig hatte. Dem Jungen kaufte Nina ein rotgelbes, verstaubtes Strandset, bestehend aus Schaufel, Sieb und Eimer. Auf dem Weg zum Wasser gab es dann noch ein Eis. Marija hatte die Hand des Jungen genommen, auf das Eisschild gezeigt und etwas gesagt. Zu Ninas großer Erleichterung hatte der Junge ihr geantwortet und auf eine der größten Eiswaffeln gezeigt. Es gab also eine Lücke in seinem Schutzpanzer, aber danach drängte sich dann trotzdem wieder die Stille zwischen Marija und den Jungen, obgleich sie mehrere Anläufe unternahm und ihm sanfte, vorsichtige Fragen stellte. Der Junge drehte ihnen demonstrativ die Seite zu, während seine Hände unentwegt im warmen weißen Sand arbeiteten.
Nina schielte zu Marija und beschloss, das Schweigen zu brechen, und sei es nur zwischen ihr und Marija. Aber worüber unterhielt man sich mit einem Mädchen wie ihr? Über ihre Arbeit in der Helgolandsgade, ihr Leben, bevor sie in Kopenhagen gelandet war? Über ihre Hoffnungen und Träume, falls von denen noch etwas übrig war? Die Tatsache, dass Nina sich Marijas Gesellschaft erkauft hatte, genau wie die Männer, die sich abends um das Mädchen scharten, stand wie ein seltsames, nicht greifbares Unbehagen zwischen ihnen.
»How long have you been in Denmark?«
Nina hätte Marija gern gefragt, ob es ihr hier gefiel, aber das verkniff sie sich.
Marija hob den Kopf und sah Nina mit einem angedeuteten Lächeln an, das trotz der Freundlichkeit distanziert blieb.
»Seven weeks«, sagte sie mit einem kurzen Nicken in Richtung Innenstadt. »It’s a beautiful city.«
Nina betrachtete Marijas lange, schlanke Beine und ihre Füße, die sie halb im Sand vergraben hatte. Auf ihrem linken Oberschenkel, unmittelbar über dem Knie, leuchteten zwei kleine, runde Narben. Zigaretten, dachte Nina automatisch und musste an den untersetzten, muskulösen Mann mit der Schlangentätowierung denken, den sie am Vorabend gesehen hatte. Dabei war gar nicht sicher, dass die beiden Brandnarben
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