Die Lieferung - Roman
man konnte die Reste von mehreren Schichten Haarlack ahnen.
»Was ist denn das für ein Höllenlärm hier?«, fauchte er. Die zwei älteren Frauen verstummten schlagartig. Frau Orlovienė kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen, als könnte es etwas nützen, sich einen Kopf kleiner zu machen. Jolita versuchte Haltung zu bewahren, aber ihre Hände hatten die nervösen Spielchen begonnen, die Sigita so gut kannte. Die eine Hand rieb die andere, wieder und wieder. Der junge Mann starrte wütend auf Sigita.
»Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte er.
»Das ist meine Nichte«, antwortete Jolita. »Sie ist überraschend zu Besuch gekommen. Aber sie geht jetzt wieder.«
»Das will ich auch hoffen«, sagte der Barkeeper. »Damit man hier mal ein bisschen zur Ruhe kommen kann.«
Er knallte die Tür hinter sich zu. Kurz darauf war das noch lautere Knallen der Wohnzimmertür zu hören. Sogar die Wände zitterten.
Sigita bückte sich und hob den Umschlag auf. Er enthielt acht 500-Litas-Scheine und ein paar kleinere Banknoten, die Sigita aber nicht zählte.
»4000 Litas«, sagte sie. »Das war also mein Preis?«
»Nein«, antwortete Frau Orlovienė. »Erst wollte er nur drei geben, aber wir haben ihn auf fünf hochgehandelt.«
Jolita machte eine heftige Bewegung in Richtung Frau Orlovienė.
»Ich verstehe wirklich nicht, womit wir deinen Zorn verdient haben«, sagte sie zu Sigita. »Wenn einem dieser Idiot 5000 Litas für eine Information geben will, die in jedem Telefonbuch steht, warum sollte ich ihm das dann nicht sagen?«
»Nur durch dich hat er erfahren, wie ich mit Nachnamen heiße«, sagte Sigita und fischte sich 3000 Litas aus dem Umschlag.
»Was tust du da?«
»Das hier, das ist dein Beitrag«, antwortete Sigita. »Ich brauche das Geld, um Mikas zurückzubekommen.« Sie ließ den Umschlag mit dem restlichen Geld zu Boden fallen. Blitzschnell bückte sich Frau Orlovienė und hob das Geld auf. Jolita stand da und starrte Sigita kopfschüttelnd an.
»Du leidest ja an Verfolgungswahn«, sagte sie. »Du arme kleine Sigita, hat sich die ganze Welt gegen dich verschworen? Aber hast du jemals daran gedacht, wie es deiner Mutter ging, als du einfach abgehauen bist? Ohne ein Wort zu sagen oder wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen? Sie hat eine Tochter verloren. Hast du jemals daran gedacht?«
Der Vorwurf traf Sigita wie ein Faustschlag.
»Sie hat die ganze Zeit über gewusst, wo ich bin«, erwiderte Sigita. »Sie haben den Kontakt zu mir abgebrochen, nicht umgekehrt.«
»Woher willst du das wissen? Hast du sie jemals gefragt?«
»Wie meinst du das?«
»Du sitzt in deiner schmucken Wohnung und wartest darauf, dass sie zu dir kommen, nicht wahr? Du bist aber weggelaufen. Da wäre es vielleicht angebracht, dass du auch den ersten Schritt unternimmst, wenn du wieder nach Hause willst.«
Nicht jetzt, dachte Sigita. Ich kann mich jetzt nicht auch noch darum kümmern. Sie warf einen raschen Blick auf die Uhr. In etwas mehr als zwei Stunden ging ihr Flugzeug.
»Leb wohl«, sagte sie, blieb aber trotzdem stehen und wartete, ohne zu wissen, worauf.
Jolita seufzte.
»Nimm das verdammte Geld«, sagte sie. »Ich hoffe, du bekommst deinen kleinen Jungen zurück.«
Sacred Heart war die Herz-Jesu-Kirche in der Stenosgade, eingeklemmt zwischen einem Kleiderladen und einer Privatschule.
Nina hatte eine ältere Dame in einem Kiosk in der Istedgade gefragt, in dem sie für sich und den Jungen einen kleinen Frühstücksimbiss gekauft hatte. Es hatte eine Weile gedauert, die richtige Übersetzung für Sacred Heart zu finden. Nina vermutete, dass es sich um eine katholische Kirche handelte, den Rest löste die Frau mit ihrer Ortskenntnis. Hinterher rief Nina Magnus aus einer kleinen, schmuddeligen Kneipe am Halmtorv namens »Grotte« an. Der Barkeeper hatte ihr freundlicherweise das Telefon und die Toilette zur Verfügung gestellt, ohne etwas dafür zu verlangen.
Das Gespräch mit Magnus war unerfreulich kurz ausgefallen.
»Verdammt, wo steckst du? Der Dienstplan platzt aus allen Nähten, und Morten ruft seit sieben Uhr ununterbrochen bei uns an. Die Polizei will mit dir reden. Hat das irgendwas mit Natasha zu tun?«
Magnus’ Worte prasselten so schnell auf sie ein, dass sie noch keine seiner Fragen beantwortet hatte, als er sich selbst unterbrach.
»Nein, warte. Ich will es gar nicht wissen, Nina, ich will es gar nicht wissen. Sag mir nur … Geht es dir gut? Morten hat mich gebeten, dich zu fragen, ob es dir gut
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