Die Lieferung - Roman
Es war aus dem Dunkel aufgetaucht, fast erwachsen, aber mit geschlechtslosem Körper und dem Gesicht eines Säuglings, blind und haarlos. Es hatte ihr die Arme entgegengestreckt und den zahnlosen Mund geöffnet.
»Mama … Mamaaaaaaa …« Im Traum zog sie sich voller Angst zurück, bis sie plötzlich bemerkte, dass dieses Kind etwas in den Armen trug. Mikas. Die langen, bläulichen Arme
glänzten von Fruchtwasser, und Mikas wand sich in seinem Griff wie ein Fisch in der Umklammerung einer Seeanemone.
»Mikas …«, schrie sie, aber der Säugling war mit Mikas längst im unerreichbaren Dunkel entschwunden.
Sie wachte schweißgebadet auf, das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Sigita rief im Flughafen an. Um 13.20 Uhr gab es einen Flug nach Kopenhagen. Das einfache Ticket kostete 840 Litas. Sigita versuchte sich zu erinnern, wie viel sie auf dem Konto hatte. Es reichte vermutlich für das Flugticket, aber was dann? Wie sollte sie ohne Geld in einem fremden Land zurechtkommen? Außerdem war im Ausland alles teurer, das wusste sie.
Vielleicht konnte Algirdas ihr einen Vorschuss geben?
Ja, vielleicht. Aber nicht, ohne ihr Fragen zu stellen. Sigita biss sich auf die Unterlippe. Ich muss einfach fahren, dachte sie. Ob ich das Geld nun habe oder nicht. Sonst bleibt mir nur, Gužas anzurufen und die Sache ihm zu überlassen. Aber das trifft dann möglicherweise Zita. Sie dachte an die kleine, für immer geschädigte Familie, an Zitas gekrümmte Finger auf den Klaviertasten und an Julijas Angst und Verzweiflung. Sie ertrug den Gedanken nicht, ihnen das Leben noch schwerer zu machen.
Vermutlich würde es aber nicht nur Zita treffen, sondern auch Mikas. Unwillkürlich musste sie an den Fingernagel denken, der Julija zugeschickt worden war. Und das war noch nichts. Nichts im Vergleich zu dem, was gewisse Menschen tun konnten .
13.20 Uhr, das war erst in ein paar Stunden.
Zum ersten Mal seit Jahren beschloss sie, ihre Tante Jolita zu besuchen.
Dunk, dunk, dunk, dunk. Das gelbe, stählerne Monster rammte das Fundament mit hohlem Dröhnen in den Boden, während
etwas entfernt ein riesiger Kran damit beschäftigt war, ein vorgefertigtes Betonelement an seinen Bestimmungsort zu bugsieren. Offensichtlich hatte jemand beschlossen, dass auf der Grünfläche zwischen den alten grauweißen Plattenbauten aus der Sowjetzeit noch Platz für eine weitere Wohneinheit war. Überall waren Staub und Lärm und Matsch, und die Luft war voller Abgase. Sigita hatte Mitleid mit den Bewohnern der Blocks. Das Viertel Pašilaičiai, in dem sie selbst wohnte, war im Prinzip ein Neubauviertel, in dem man erst vor kurzem die Reste des Bauschutts durch Annehmlichkeiten wie Bürgersteige und Straßenbeleuchtungen ersetzt hatte. Im Hausflur war das Dröhnen etwas leiser. Langsam stieg sie die Treppe in den zweiten Stock hoch und klingelte dann an der Tür.
Eine dünne, grauhaarige Frau öffnete ihr. Sigita brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass diese Frau tatsächlich ihre Tante war. Auch Jolita starrte sie ein paar lange Sekunden an, schien Sigita aber gleich erkannt zu haben.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Ich will dich nur etwas fragen.«
»Dann frag.«
»Können wir nicht reingehen?«
Jolita dachte einen Moment nach. Dann trat sie zur Seite, damit Sigita in den Flur treten konnte.
»Aber sei leise, ich habe einen Mieter, der als Barkeeper arbeitet. Er kommt immer erst nachts um vier oder fünf nach Hause, und er wird schnell sauer, wenn man ihn vormittags weckt.«
Der Barkeeper bewohnte den Raum, der früher einmal das Wohnzimmer gewesen war, weshalb Jolita sie in die winzige Küche führte. An dem kleinen Tisch mit der Wachstuchtischdecke saß eine alte Frau und trank Kaffee. Zwei unbenutzte Tassen standen dort, abgedeckt mit den Untertassen, damit
kein Staub und keine Fliegen hineinfielen. So hatte Mutter es zu Hause auch immer gemacht. Der Kaffeeduft kam aus einer glänzend neuen Kaffeemaschine, die vor sich hin gurgelte. Auf dem Tischchen standen eine Flasche Sherry und ein Teller mit ein paar Marzipanplätzchen.
»Das ist Frau Orlovienė«, sagte Jolita. »Greta, das ist meine Nichte Sigita.«
Frau Orlovienė nickte zurückhaltend.
»Frau Orlovienė hat die Kammer gemietet«, fuhr Jolita fort. »Du kannst also nicht einfach wieder einziehen, solltest du das im Sinn haben.«
»Nein«, sagte Sigita überrumpelt. »Darum geht es nicht.« Was war aus der Tante Jolita geworden, die sie in Erinnerung hatte? Aus der Frau
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