Die Lilie im Tal (German Edition)
lieben, dem Gesetze zum Trotz, für den Abgott, den man sich auserkoren hat, sterben und aus seinen Leinentüchern sich Leichentücher schneiden, Himmel und Erde einem Manne unterwerfen und dem Allmächtigen das Recht rauben, jemanden zum Gott zu erheben, ihn für nichts, nicht einmal für die Tugend, aufgeben; denn dem Geliebten sich im Namen der Pflicht entziehen, heißt das nicht: sich an etwas hingeben, was nicht er ist? (sei's nun Mensch oder Idee – immer ist es ein Verrat!), das ist eine Größe, an die gemeine Frauen nicht hinanreichen können; für sie gibt es nur zwei mögliche Wege, die breite Straße der Tugend oder den schlammigen Weg der Kurtisane.«
Sie rief, wie Sie sehen, meinen Stolz an, schmeichelte allen Eitelkeiten, indem sie sie vergötterte, und stellte mich so hoch, daß sie nur zu meinen Füßen leben konnte. Auch zeigte sich ihre ganze Verführungskunst in ihrer Sklavinnenpose und ihrer völligen Unterwürfigkeit. Sie konnte tagelang schweigend zu meinen Füßen liegen und mich anschauen, die Stunden des Genusses erspähend wie eine Odaliske und sie durch geschicktes Gebaren beschleunigend, doch ganz so, als scheine sie geduldig zu warten. Mit welchen Worten soll ich die ersten sechs Monate schildern, während welcher ich der Raub der aufregenden Genüsse einer wollustreichen Liebe war, welche die Freuden mit der Kunst der Erfahrung immer neu gestaltete, aber ihr Wissen unter den Wallungen der Leidenschaft verbarg? Diese Genüsse, die plötzliche Offenbarung der Poesie der Sinne sind das starke Band, das junge Leute mit älteren Frauen verknüpft; aber dieses Band ist die Kette des Sträflings; es läßt in der Seele eine unauslöschliche Spur zurück und flößt ihr von vornherein Geringschätzung ein für frische, unschuldige, nur blütenreiche Liebe, die es nicht versteht, berauschende Getränke in seltsam ziselierten Goldpokalen zu bieten, die mit Edelsteinen von unauslöschlichem Feuer besetzt sind. Während ich die Wollüste sog, die ich erträumt hatte, ohne sie zu kennen, die ich in meinen Liebessträußen zum Ausdruck gebracht und die ein seelischer Bund tausendfach glühender macht, fehlte es mir nicht an Scheingründen, um die Freude zu rechtfertigen, mit der ich aus dieser schönen Schale trank. Oft, wenn in unendlicher Erschlaffung meine Seele sich von der Leidenschaft löste und hoch über der Erde schwebte, sagte ich mir, daß solche Wonnen ein Mittel seien, die Materie zu vernichten und den herrlichen Aufschwung des Geistes zu beflügeln. Oft nützte Lady Dudley, wie so viele Frauen, die Verzückung aus, in die mich das Übermaß des Glückes versetzte, um mich durch Gelübde an sich zu ketten, und unter dem Peitschenhieb der Begierde entriß sie mir Lästerungen des Engels von Clochegourde. Ich war ein Verräter geworden, ich wurde ein Heuchler. Ich fuhr fort, an Madame de Mortsauf zu schreiben, als sei ich noch derselbe Knabe mit dem geschmacklosen kleinen blauen Anzug, der Knabe, den sie so sehr liebte. Aber ich muß gestehen, daß ihre Gabe des Zweiten Gesichts mich entsetzte, wenn ich an das Unheil dachte, das die geringste Indiskretion in meinem hübschen Traumschloß anrichten konnte. Mitten im Genuß packte mich oft ein eisiger Schmerz, ich hörte den Namen ›Henriette‹ von einer überirdischen Stimme rufen, wie das ›Kain, wo ist Abel?‹ der Heiligen Schrift. Meine Briefe blieben unbeantwortet. Eine schreckliche Herzensangst befiel mich; ich wollte nach Clochegourde aufbrechen. Arabella widersetzte sich dem nicht, aber natürlich sprach sie davon, mich in die Touraine zu begleiten. Ihre Laune wurde durch die Schwierigkeit der Unternehmung noch aufgestachelt; ihre Ahnungen, die ein unerhofftes Glück gerechfertigt hatte –: alles hatte in ihr eine wirkliche Liebe erzeugt, die sie zu einer ganz einzigartigen machen wollte. Ihr weiblicher Scharfblick ließ sie in dieser Reise ein Mittel sehen, mich völlig von Madame de Mortsauf loszulösen; während ich, von Furcht geblendet, von wahrer, naiver Leidenschaft hingerissen, die Falle nicht sah, worin ich mich fangen sollte. Lady Dudley machte die demütigsten Zugeständnisse und kam allen Einwendungen zuvor. Sie erklärte sich bereit, in der Nähe von Tours, unter fremdem Namen und verkleidet, auf dem Lande zu wohnen, nie bei Tage auszugehen und mich nur nachts zu treffen, wenn niemand uns sehen könnte. Ich ritt von Tours nach Clochegourde. Ich hatte meine guten Gründe, so zu reisen, denn ich brauchte für meine
Weitere Kostenlose Bücher