Die linke Hand Gottes
Baring-Enge erreichen lassen, denn dann entwischen sie. Aber dazu brauche ich eine genauere Karte für diesen Geländeabschnitt«, und dabei zeigte er auf ein Gebiet von rund zwanzig Quadratmeilen, »und zwei, drei Stunden Zeit zum Überlegen.«
Sollte er diesem rätselhaften Jungen vertrauen und ihn allein lassen? Von seinem Vater hatte Vipond das Scherzwort, wonach es bei Krisen in den meisten Fällen am besten sei, einfach abzuwarten. »Beweg dich nicht unnötig«, sagte er immer, »sondern steh still.«
»Warte nebenan, ich bringe dir selber die Karten, die du brauchst. Und bleib vom Fenster weg.«
Cale stand auf und ging in das Privatkabinett des Kanzlers, doch als er die Tür hinter sich schließen wollte, wurde er von Vipond angehalten. »Das Massaker, gehörte das auch zu deinem Plan?«
Cale sah ihn seltsam an, aber ohne beleidigt zu sein.
»Was glaubt Ihr denn?«, fragte er leise und schloss die Tür.
Vipond schaute zu seinem Halbbruder hinüber. »Du warst sehr still.«
IdrisPukke zuckte die Achseln. »Was soll man dazu sagen. Entweder du glaubst ihm oder du glaubst ihm nicht.«
»Und du, glaubst du ihm?«
»Ich glaube an ihn.«
»Worin liegt da der Unterschied?«
»Er hat mich immer belogen, weil er es nicht über sich bringt, mehr Risiken einzugehen als unbedingt nötig. Zu verschwiegen zu sein ist manchmal ein Fehler, und diesen Fehler macht er noch.«
»Ich selbst halte das gar nicht mal für einen Fehler«, sagte Vipond.
»Ja, weil du wie Cale ein verschwiegener Mensch bist.«
»Aber jetzt in diesem Fall?«
»Ich glaube, dass er die Wahrheit sagt«, befand IdrisPukke.
»Das denke ich auch.«
Sobald Vipond sich zum Eingreifen entschlossen hatte, sah er Cales Plan mit wachsender Ungeduld entgegen. Aus den angekündigten drei Stunden waren mehr als drei Tage geworden. »Wollt Ihr, dass der Plan gut wird, oder wollt Ihr ihn gleich?«, erwiderte Cale auf Viponds wiederholte Bitte, ihm zumindest den Umriss seines Plans zu zeigen. Dass ein so kühl analysierender Kopf wie Vipond so ungeduldig wurde, hatte mit der Verstörung zu tun, in die ihn der Bericht über das Massaker an den Dorfbewohnern versetzt hatte. Außerdem warf dieser Bericht ein neues Licht auf die beunruhigenden Aussagen der wenigen Antagonisten-Flüchtlinge aus dem Norden. Brzicas Henkershandschuh hatte ihn bis ins Mark getroffen, als ob alle Bosheit und Rachsucht der Welt ein greifbares Abbild in diesem Handschuh, in seiner Form und der handwerklichen Sorgfalt, mit der er genäht und die Klinge akkurat dem Leder zugefügt worden war, gefunden hätten. Dabei hatte er sich immer für einen Mann von Welt, für einen Pessimisten, wenn nicht gar Zyniker gehalten. Er erwartete wenig von seinen Mitmenschen und wurde nur selten überrascht. Dass es Mord und Gräuel in der Welt gab, war nichts Neues für ihn. Doch dieser Handschuh war ein Beleg dafür, dass etwas über alle Vorstellung Grausames geschehen war. Als hätte die Hölle, die er vor langer Zeit als Gräuelmärchen für Kinder abgetan hatte, ihm einen Boten geschickt, nicht einen mit Hörnern und Pferdefuß, sondern in Gestalt dieses Henkershandschuhs.
Für Vipond war es keine leichte Aufgabe, auf die Taktik der Materazzi Einfluss zu nehmen, denn sie wachten in dieser Hinsicht eifersüchtig auf ihren Vorrang. Zudem gehörte Vipond nicht dem Militär an, sondern war Politiker, also ein weiterer Grund für die Materazzi, misstrauisch zu sein. Schließlich machte die schwache Gesundheit des Marschalls das Ganze noch schwieriger. Aus den lästigen Halsschmerzen hatte sich eine schwere Erkrankung der Atemwege entwickelt, die ihn daran hinderte, an den vielen Sitzungen teilzunehmen, bei denen der geplante Feldzug besprochen wurde. Vipond musste sich den neuen Gegebenheiten anpassen, und das gelang ihm auch mit dem ihm eigenen Geschick. Die Nachricht, dass die Materazzi-Späher die Spur der Erlöser im Wald von Hessel verloren hatten, war kein Grund zur Aufregung, denn man ging davon aus, dass sie bald auf dem einzigen Weg, der in die Scablands führte, wieder auftauchen würden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Vipond ein Geheimtreffen mit dem Stellvertreter des Marschalls, General Amos Narcisse. Diesem teilte er vertraulich mit, dass er dank Informationen seiner Spione wisse, welche Absichten die Erlöser wirklich verfolgten, doch wünsche er aus vielerlei Gründen nicht, dass seine Person in diesem Zusammenhang genannt werde. Wenn Narcisse diese geheimdienstlichen Erkenntnisse in
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