Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
verdrehte die Augen. Es war über ein Jahr her, dass sie und Leo zuletzt zusammen essen waren. Das Willie’s, ein klassischer Italiener, in dem sie früher viele Abende verbracht hatten, befand sich neben dem berühmten Chicagoer Water Tower, den sie aufgrund seiner einzigartigen Geschichte schon immer bewundert hatte. Ganz gleich wie oft sie auch an dem bedeutenden neugotischen Wahrzeichen vorbeiflanierte, sie konnte es sich nie verkneifen, den vergilbten Sandstein zur Begrüßung zu tätscheln, und es versetzte sie immer aufs Neue in Erstaunen, dass dieses Bauwerk als einziges stehen geblieben war, als alle anderen Gebäude Chicagos dem großen Feuer von 1871 zum Opfer gefallen waren. Das ungewöhnliche Monument, das voll blinkender Weihnachtsbeleuchtung war, symbolisierte Chicagos erbitterten Willen weiterzubestehen. In Claras Augen war dies ein Bild kraftvoller Schönheit.
»Tja, ich weiß ja, wie gern du diesen Teil der Stadt magst«, erwiderte Leo.
Während sie in ihren überbackenen Rigatoni mit Fleischbällchen herumstocherte, beschrieb ihm Clara die anderen Schüler des Kurses, eine große Frau namens Svetlana eingeschlossen, die ihr Lebkuchengefängnis aus Versehen fallen ließ und dann wie ein Baby weinte. Außerdem erzählte sie ihm, dass Chefkoch Guillaume nicht bloß ihr Exemplar von »K wie Keks, Alter!« signiert hatte, sondern auch noch so freundlich war, ihr eine Widmung für »mein Schätzchen, Claire« hineinzuschreiben. Ihr ganzes Leben lang hatten Leute sie irrtümlicherweise Claire genannt. Früher hatte sie das immer wahnsinnig gemacht, aber solche Kleinigkeiten erkannte ihr Radar nun gar nicht mehr. Clara, Sara, Tara, Tyrone … Spielte das wirklich eine Rolle?
Als das Thema Lebkuchen schließlich erschöpfend behandelt worden war, informierte Clara Leo über ihre Fortschritte, was die To-do-Liste aus der Zeitkapsel betraf. Während sie ihm Fotos von Mon Chéri zeigte, berichtete sie ihm, dass sie auf dem Weg in die Innenstadt kurz auf der Post Halt gemacht hatte, um Mrs. Fosters Vase abzuschicken. Dann rückte sie ganz nebenbei damit heraus, dass sie demnächst eine Verabredung mit Todd hatte, wechselte dann aber schnell das Thema: »Ich überlege, ob ich noch ein Glas Wein bestellen oder lieber zum Bier übergehen soll.«
Leo legte mit amüsiertem Blick sein Steakmesser aus der Hand. »Todd? Du meinst den Klavierstimmer Ich-bin-Katalogmodel Todd?«
Clara nickte.
»Das sind tolle Neuigkeiten«, sagte er ohne eine Spur Ironie. Dann aß er weiter. »Todd scheint ein netter Kerl zu sein.«
Clara war überrascht, als Leo sie nicht damit aufzog und sie auch nicht mit Fragen bombardierte. Sie nahm an, ihr Bruder bemühte sich bei einem so heiklen Thema wie Männerverabredungen, tunlichst nicht die Linie zu übertreten. Sein inneres Moralbarometer war schon immer sauber geeicht gewesen, wenn die Gefahr bestand, sie zu sehr zu bedrängen, vor allem in letzter Zeit. Dennoch verspürte Clara den Drang, ihren Standpunkt in dieser Sache klar darzulegen, als säße Sebastian mit ihnen im Raum, und im Grunde war es ja auch so. »Glaub mir, ich habe kein Interesse an einer Beziehung mit Todd oder mit sonst wem. Es ist einfach noch zu früh dafür. Viel zu früh …« Sie pickte mit dem Finger einen Krümel vom Tisch auf. »Aber als er mich zum Essen eingeladen hat, war alles – und damit meine ich wirklich alles –, woran ich denken konnte, ›Der ungenannte Wunsch‹ …«
»Du meinst dieses Gedicht, auf das du schon immer so versessen warst?«
»Genau.« Clara verharrte, die Gabel in der Luft, und sah ihn an. »Ich hab’s einfach nicht aus dem Kopf bekommen, Leo. Es war total seltsam. Und dann wurde mir klar, dass jetzt vielleicht nicht die beste Zeit dafür ist, neue Chancen und Erlebnisse auszuschlagen.«
»Da stimme ich dir absolut zu. Ich muss sagen, du imponierst mir.«
»Also hab ich mir gedacht, dass es, solange ich dieses Zeitkapsel-Ding wirklich verfolge, vielleicht nicht schaden könnte, wenn ich dazu eine ›Wohlan, Reisender‹-Einstellung annehme. Weißt du, wie ich meine? Segle vorwärts, zu suchen und zu finden ?« Sie nahm einen kleinen Bissen von einem der Fleischbällchen. »Es ist ja nicht gerade so, als hätte ich was zu verlieren.«
»Ich finde, das ist eine großartige Idee.« Offensichtlich erfreut, streckte Leo die Hand mit seiner Scuppernong-Flasche aus und stieß damit an Claras Glas. »Feliz navi- Todd !«
»Oh, ich wusste doch, dass das noch nicht alles
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