Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
verstehen und nachzuvollziehen, solange man es selbst nicht erlebt hat«, sagte Lincoln. »Schon klar. Aber ich finde auch, du solltest mal halblang machen und nicht vergessen, dass du versucht hast – und immer noch versuchst –, mit einer unfassbaren Tragödie umzugehen, so gut du eben kannst. Wir wissen beide, dass einen nichts, und damit meine ich: absolut gar nichts, darauf vorbereiten kann, über den Tod eines geliebten Menschen hinwegzukommen. Leider wacht man nicht einfach eines Tages auf und sagt: ›Okay, jetzt hab ich genug getrauert. Es wird Zeit, dass ich wieder zu meinem normalen Leben übergehe.‹ Wir tun unser Bestes, C. J.«
»Ja, aber im Moment weiß ich nicht einmal, was in Tabithas Leben so vor sich geht. Ich habe praktisch ein ganzes Jahr verpasst. Vielleicht ist sie auf die Marianen gezogen!«
Überraschung machte sich in Lincolns Gesicht breit. »Echt? Tabitha hat überlegt, auf die Marianen zu ziehen?«
» Nein «, seufzte Clara. »Das sollte bloß ein Beispiel sein.« Sie schüttelte empört den Kopf. »Ich kann verstehen, dass sie mir die ganze Sache verübelt. Ich bin ein selbstsüchtiger, schrecklicher Mensch. Na toll! « Sie warf die Arme in die Luft. »Jetzt ist mir auch noch der Druckknopf an der Hose aufgeplatzt!«
Lincoln winkte dem Mann am Nebentisch, der sie unverhohlen anstarrte. »Okay, erstens musst du aufhören, so verdammt hart mit dir selbst zu sein, und zweitens habe ich’s dir nur nicht gesagt, aber ich hab meinen obersten Knopf schon nach der gemischten Vorspeisenplatte aufgemacht.«
Clara musste kichern.
»Lass mich dir eine Frage stellen: Hast du alles, was du mir gerade erzählt hast, eigentlich auch schon Tabitha gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s versucht, aber …«, Clara zuckte niedergeschlagen mit den Schultern.
»Tja«, Lincoln verschränkte die Arme vor der Brust, »worauf wartest du dann noch?«
März
21
Es war ein ungewöhnlich milder Nachmittag, kurz nachdem sich Sebastians Todestag zum ersten Mal jährte. Die Sonne lugte hinter einer vorbeiziehenden Wolke hervor, und der Duft von frisch geschnittenem Gras und Schlüsselblumen lag in der Luft, die das hoffnungsvolle Versprechen auf Frühling mit sich brachte. Clara kauerte auf allen vieren in Libbys Garten hinterm Haus und grub an der Stelle ein Loch, wo sie glaubte, als Kind Leos Blockflöte vergraben zu haben.
»Ich schwöre, hier hab ich sie irgendwo hin«, sagte sie noch einmal zu Libby, die, beide Hände in die Hüften gestemmt, mit gerunzelter Stirn neben ihr zwischen der großen Trauerweide und der Ahornburg stand. »Tut mir leid. Bei den anderen acht Löchern habe ich mich getäuscht.« Clara zuckte mit den Schultern und versuchte die Tatsache herunterzuspielen, dass sie den sorgfältig gepflegten Garten ihrer Mutter langsam, aber sicher in eine mit Kratern durchzogene Kriegszone verwandelte. »Aber bei diesem hier habe ich ein gutes Gefühl.«
»M-hmm. Und wie viel tiefer hast du vor, hier noch zu graben?« Libby tippte ungeduldig die Fußspitze im weichen Gras auf.
»Nicht viel.« Clara wischte sich einen Schweißfilm von der Stirn, sie fürchtete, ihrer Mutter könnte jeden Moment Rauch aus der Nase quellen. »Es war mitten in der Nacht, als ich die Flöte vergraben hab, also war es draußen dunkel, aber soweit ich mich erinnern kann, hat es mich nicht viel Zeit gekostet, das Loch zu graben. Wenn mich also nicht alles täuscht, sollte das Ding jeden Moment hier irgendwo auftauchen.«
»Jeden Moment … irgendwo …«, wiederholte Libby. »Ja, das wollen wir doch mal hoffen.«
Zehn Minuten später, Libby schaute immer finsterer drein, schaufelte Clara weiter mit hektischer Geschwindigkeit herum, und ihre Mutter kaute mit zunehmender Ungeduld auf ihrer Unterlippe, während sie zusah, wie der neunte unansehnliche Graben in ihrem heiß geliebten Garten immer größer wurde.
»Äh, noch ein Loch, und du bekommst ein Sandwich umsonst?«, versuchte Clara ihre Mutter zu bestechen.
Aber Libby stand bloß mit verschränkten Armen da und fand das ganz und gar nicht lustig.
»Ich verstehe das nicht.« Clara schleuderte weiter mit der Kelle Erde über ihre Schulter. »Ich hätte schwören können, dass ich das verdammte Ding hier vergraben habe!«
»Das ist es doch, was eine Mutter aus dem Mund ihrer Tochter hören will.«
»Es tut mir leid. Aber im Ernst, ich versichere dir, dass ich hier hinten wirklich kein Riesendurcheinander machen will . Aber du musst das
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