Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
zurück nach Chicago gefahren, und wie ging’s dann weiter? Was dann, was dann? « Endlich schwieg Tabitha mit vor Spannung angehaltenem Atem.
Wenn sie bloß an das zauberhafte Wochenende dachte, musste Clara, die den Sonntag mit einer dampfenden Tasse Kamillentee auf der Couch ausklingen ließ, schon strahlend grinsen. »Äh, lass mich überlegen … Wir sind bei Leo vorbeigefahren, um Mon Chéri abzuholen, blieben eine Weile da, und er und Lincoln haben mich beide beim Memory besiegt. Es war erbärmlich. Ich schwöre bei Gott, ich habe null Kurzzeitgedächtnis. Und dann hat mich Linc nach Hause gebracht. Im Prinzip war’s das.«
» Im Prinzip war’s das? Du solltest dich mal hören! Ich kann dein Grinsen sogar durchs Telefon hören.«
»Kannst du das?«
»Oh, ja. Also sag, wann seht ihr euch wieder?«
»Morgen zum Abendessen.«
»Und was passiert nach dem Abendessen?« , bohrte Tabitha nach.
»Um ehrlich zu sein, versuche ich noch zu begreifen, was die letzten drei Tage passiert ist«, gestand Clara. »Ich sag dir, Tabi, ich hab das so überhaupt nicht erwartet. Das ganze Wochenende war wie ein Film. Ein Kitschfilm! Nur … Es ist … wahr .«
»Oooh«, gurrte Tabitha. »Ich freu mich ja so für dich. Und für Linc.«
»Ich … und Linc …«, sagte Clara ungläubig, und ihre Stimme verriet ehrliches Erstaunen. »Meine Güte, wer hätte das je gedacht?«
»Na ja, mal sehen … Ich, Max, Leo … deine Mutter, denke ich … vermutlich hatte auch Meg so eine Ahnung … und dann wären da natürlich noch Lincoln und …«
»Schon gut, schon gut, ich hab’s kapiert«, unterbrach Clara sie schmunzelnd. »Ich hab ganz schwache Antennen.«
»Na ja, um ehrlich zu sein, hattest du ein paar andere kleine Probleme im Kopf. Ich spreche ungern ein heikles Thema an, aber hast du schon entschieden, was du dem Bierkönig von Boston sagen wirst?«
Clara fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, sie fiel wie aus Wolke sieben und stieß einen schweren Seufzer aus. »Wir haben vereinbart, dass wir am Mittwoch noch mal telefonieren. Allein wenn ich daran denke, wird mir schon ganz schlecht.« Sie hielt inne. »Es ist verrückt, wenn man sich überlegt, wie drastisch sich das Leben auf einmal ändern kann. Ich denke, ich habe es lange genug aufgeschoben, Tabi.«
Ein Trauerbegleiter, den Clara kurz nach Sebastians tödlichem Unfall aufgesucht hatte, hatte ihr ein Zitat von Abraham Lincoln mitgegeben, von dem er behauptete, es sei »ungemein inspirierend«. Er hatte von seinem schwarzen Büchlein aufgeblickt, in das er sich Notizen gemacht hatte, den angekauten Bleistift hinters Ohr gesteckt und zitiert: »Der Mensch ist gerade so glücklich, wie er sich zu sein entschließt.« Clara hatte bloß genickt, als hätte sie verstanden und bei sich gedacht: »Was für ein abgedroschener Mist.« In ihrem Schmerz hätte sie lieber gekontert: »Klar, Doktor, lassen Sie uns die Weisheiten von Super-Abe doch noch einmal diskutieren, nachdem die Polizei bei Ihnen war und Ihnen mitgeteilt hat, dass die Liebe Ihres Lebens – der Seelenverwandte, mit dem Sie alt werden wollten und ohne den Sie einfach nicht leben können – gerade bei einem schrecklichen Unfall brutal aus dem Leben gerissen wurde, und das neun Tage vor Ihrer Hochzeit mit ihm. Wie wär’s, wenn wir das Gespräch dann fortsetzen?«
Der Psychiater, an den sich Clara danach hilfesuchend gewandt hatte, rezitierte mit schrecklich ernster Stimme und fragwürdig britischem Akzent Aristoteles: »Glück hängt von uns selbst ab.« Wieder machte Clara ein ernstes Gesicht und gab vor, die Botschaft des Philosophen der Antike sehr ernst zu nehmen. Doch in Wahrheit dachte sie bloß: »Dann war Aristoteles also genauso ein Phrasendrescher wie der alte Abraham Lincoln …«
Der dritte und letzte Psychiater, den Clara aufgesucht hatte – ein Mann mit einer unnatürlichen orangebraunen Haut, dem Leo den Spitznamen Dr. Oompa Loompa verpasst hatte –, sagte zu ihr: »Ein sehr weiser Mann hat einmal gesagt: ›Was ich übers Leben gelernt habe, lässt sich in drei Worte fassen …‹«
»›Es. Geht. Weiter‹«, unterbrach ihn Clara, verdrehte die Augen mit unverhohlener Geringschätzung und fügte noch hinzu: »Robert Frost.« Sie stieß einen gequälten Seufzer aus und fragte sich, ob dieser orangegesichtige Kerl wirklich glaubte, er könnte ihr dabei helfen, ihre Probleme zu lösen, indem er ihr einen Spruch präsentierte, den sie im Schlaf aufsagen konnte. »Mit Lyrik kenne ich
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