Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
Maschinen standen noch dort.
    Er überquerte die vertraute Lichtung vor seiner alten Höhlenklinik und blickte zum Dorf hinunter. Er konnte ein Stück vom Hof vor der Moschee sehen, erkennen konnte er niemand. Umgekehrt ließ sich nicht ausschließen, dass einer von denen im falschen Moment den Hang hinaufblickte und Jean-Pierre nicht nur sah, sondern auch erkannte – vielleicht besaßen sie eine größere Sehschärfe als er. Jean-Pierre zog seine Kapuze nach vorn, sodass sein Gesicht praktisch verdeckt war.
    Je weiter er sich von den russischen Hubschraubern und der Sicherheit, die sie boten, entfernte, desto schneller schlug sein Herz. Er eilte den Hang hinunter und am Haus des Mullahs vorbei. Das Tal wirkte sonderbar still trotz des immerwährenden Rauschens des Flusses und des fernen Wisperns der Hubschrauberrotoren. Plötzlich wusste er, woran es lag: an den fehlenden Kinderstimmen.
    Er bog um die Ecke und befand sich nun außer Sicht vom Mullah-Haus. Neben dem Weg gab es dichtes Kamelgras und ein paar Büsche. Er kauerte dahinter nieder. Von hier hatte er einen freien Blick auf den Weg, war aber seinerseits gut verborgen. Er begann zu warten.
    Was, ging es ihm durch den Kopf, würde er am besten zu Abdullah sagen? Der Mullah war ein fanatischer Frauenhasser: Genau dort würde man ansetzen müssen.
    Das plötzliche Lautwerden von hohen Stimmen weit unten im Dorf verriet Jean-Pierre, dass Anatoli den Befehl durchgegeben hatte, die Frauen und Kinder aus der Moschee zu lassen. Jean-Pierre spürte Unbehagen: War er hier wirklich gut genug versteckt? Würden die Kinder vielleicht vom Weg abweichen und in dieses Gebüsch stolpern? Was für eine Demütigung würde das sein - von Kindern aufgespürt zu werden. Er fühlte die Pistole in seiner Hand. Könnte ich auf Kinder schießen? fragte er sich.
    Sie kamen vorbei, niemand entdeckte ihn. Bald darauf hoben die russischen Hubschrauber vom Weizenfeld ab: das bedeutete, dass auch die Männer freigelassen worden waren. Planmäßig kam Abdullah den Hügel heraufgekeucht, eine beleibte Gestalt mit einem Turban und einem Nadelstreifenjackett englischer Herkunft. Es schien, dieser Gedanke war Jean-Pierre schon früher gekommen, zwischen Europa und dem Osten einen umfangreichen Handel mit gebrauchter Kleidung zu geben, denn viele Leute hier trugen Sachen, die zweifellos aus Paris oder London stammten. Der rasche Wechsel der Mode mochte dazu geführt haben, dass sie aussortiert wurden, lange bevor man sie abgetragen nennen konnte.
    Jetzt kommt’s drauf an, dachte Jean-Pierre, als die komische Gestalt sich mit ihm auf gleicher Höhe befand; dieser Clown im Börsianer-Jackett könnte den Schlüssel zu meiner Zukunft in der Hand halten. Er erhob sich und trat aus dem Gebüsch hervor. Der Mullah fuhr zusammen und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Erst jetzt schien er Jean-Pierre zu erkennen. »Du!« sagte er. Seine Hand streckte sich nach seinem Gürtel. Jean-Pierre ließ ihn die Pistole sehen. Voll Angst starrte Abdullah die Waffe an.
    »Hab’ keine Angst!« sagte Jean-Pierre. Das Zittern in seiner Stimme verriet seine Nervosität, und er versuchte, sie unter Kontrolle zu bekommen. »Niemand weiß, dass ich hier bin. Deine Frau und deine Kinder sind vorbeigegangen, ohne mich zu sehen. Sie befinden sich in Sicherheit.«
    Abdullah musterte ihn misstrauisch . »Was willst du?«
    »Meine Frau ist eine Ehebrecherin«, sagte Jean-Pierre, und wenn er sich die Vorurteile des Mullahs auch bewusst zunutze machte, so war seine Wut zu einem guten Teil auch echt. »Sie hat mich verlassen und mein Kind mitgenommen. Sie ist hinter dem Amerikaner her, dessen Hure sie ist.«
    »Das weiß ich«, sagte Abdullah, und Jean-Pierre sah, wie er sich aufplusterte in gerechter Empörung.
    »Ich habe nach ihr gesucht, um sie zu bestrafen.«
    Abdullah nickte eifrig, und seine Augen funkelten böse: Der Gedanke an die Bestrafung einer Ehebrecherin war ganz nach seinem Geschmack.
    »Aber das sündige Paar hält sich versteckt.« Jean-Pierre sprach langsam und wählte sorgfältig seine Worte: an diesem Punkt kam es auf jede Nuance an. »Du bist ein Mann Gottes. Sag mir, wo sie sind! Niemand wird jemals wissen, wie ich es herausgefunden habe, außer dir und mir und Gott.«
    »Sie sind fortgegangen.« Abdullah spie die Worte aus, und Speichel sprühte auf seinen rot gefärbten Bart.
    »Wohin?« fragte Jean-Pierre fast tonlos.
    »Sie haben das Tal verlassen.«
    »Aber wo sind sie hin?«
    »Nach

Weitere Kostenlose Bücher