Die Löwen
viel zu tun.
Morgen in aller Frühe brechen wir auf. Los jetzt!«
17
JANE ERWACHTE IN Angst. Sie wusste nicht, wo sie war oder mit wem sie hier war, oder ob die Russen sie gefangen genommen hatten. Für einen Augenblick starrte sie empor zur bloßliegenden Unterseite des Flechtwerkdaches. Ist es ein Gefängnis? ging es ihr durch den Kopf. Abrupt und mit hämmerndem Herzen setzte sie sich auf - und sah dann Ellis in seinem Schlafsack, mit offenem Mund atmend, und sie erinnerte sich: Wir sind aus dem Tal raus. Wir sind entkommen. Die Russen wissen nicht, wo wir sind, und sie können uns nicht finden.
Sie streckte sich wieder aus und wartete darauf, dass ihr Herzschlag sich beruhigte.
Von der von Ellis ursprünglich vorgesehenen Route waren sie abgewichen. Statt nordwärts nach Comar zu wandern und dann ostwärts durchs Comar-Tal nach Nuristan, waren sie von Saniz in südlicher Richtung zurückgegangen, um dann östlich das Aryu-Tal zu durchqueren. Mohammed hatte diese Route vorgeschlagen, weil sie auf diese Weise das Fünf-Löwen-Tal wesentlich schneller hinter sich lassen würden, und Ellis hatte zugestimmt.
Schon vor Tagesanbruch hatten sie sich auf den Weg gemacht und waren dann unaufhörlich bergauf gewandert. Während Mohammed Maggie führte, trugen Ellis und Jane abwechselnd Chantal. Gegen Mittag hielten sie dann kurze Rast in Aryu, einem Lehmhüttendorf, wo sie von einem misstrauischen alten Mann, der einen böse knurrenden Hund bei sich hatte, etwas Brot kauften. Aryu war so etwas wie der letzte Außenposten der Zivilisation gewesen; dahinter gab es kilometerweit nichts als den mit Felsbrocken übersäten Fluss und zu beiden Seiten die hohen, kahlen, elfenbeinfarbenen Berge. Am späten Nachmittag hatten sie dann erschöpft diesen Ort erreicht.
Jane setzte sich wieder auf. Chantal neben ihr atmete gleichmäßig und strahlte Hitze aus wie eine Wärmflasche. Ellis lag in seinem Schlafsack. Sie hätten mithilfe der Reißverschlüsse aus den beiden Schlafsäcken einen einzigen machen können, doch Jane hatte befürchtet, dass Ellis sich im Schlaf womöglich auf Chantal wälzen könnte. So hatten sie denn getrennt geschlafen und sich damit zufriedengegeben , dass sie dicht beieinanderlagen und sich dann und wann mit ausgestreckten Händen berühren konnten.
Mohammed befand sich im benachbarten Raum.
Vorsichtig, um Chantal nicht zu stören, erhob sich Jane. Als sie in ihre Hosen schlüpfte, spürte sie stechende Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Zwar war sie langes Gehen gewöhnt, doch den ganzen Tag ohne Pause bergauf zu wandern, dazu noch in so rauem Terrain, das stellte ganz besondere Anforderungen an den Körper.
Sie zog sich ihre Stiefel an, ohne jedoch die Schnürsenkel zuzubinden, und trat hinaus.
Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen gegen das helle, kalte Licht der Berge. Vor ihren Füßen breitete sich eine Art Wiese aus, ein weit gedehntes grünes Feld, durch das sich ein Bach schlängelte. Auf der einen Seite der Wiese stieg steil der Berg empor, und hier, am Fuß des Hangs, gab es eine Handvoll Steinhäuser und ein paar Viehgehege. Die Häuser waren leer und die Viehgehege auch: Es war eine Sommerweide, und die Kuhherden hatte man jetzt zu ihren Winterquartieren getrieben. Während es im Fünf-Löwen-Tal noch Sommer war, hielt in dieser Höhe der Herbst bereits im September Einzug.
Jane ging zum Bach. Er war weit genug von den Häusern entfernt, und sie konnte sich ungeniert ausziehen, ohne womöglich Mohammeds Schamgefühl zu verletzen. Sie lief in den Bach und tauchte rasch im Wasser unter. Es war von beißender Kälte. Sofort ging sie wieder hinaus, buchstäblich mit den Zähnen klappernd.
Sie schlüpfte wieder in ihre Kleider und rannte zum Haus zurück. Unterwegs las sie dürres Gezweig auf, das sie in die Aschenglut legte, die noch übrig war vom Feuer am vorigen Abend. Sie blies in die Glut, bis das frische Holz zu brennen begann. Dann hielt sie ihre starren Hände an die Flammen.
Sie setzte einen Topf voll Wasser auf, für Chantals Morgenwäsche. Während sie darauf wartete, dass es warm genug wurde, wachten nach und nach die anderen auf. Zuerst Mohammed, der nach draußen ging, um sich zu waschen; dann Ellis, der darüber klagte, dass ihm der ganze Körper wehtat; und schließlich Chantal, die gestillt werden wollte und bald zufrieden und satt war.
Jane empfand eine eigentümliche Euphorie. Eigentlich, ging es ihr durch den Kopf, müsste ich voller Besorgnis
Weitere Kostenlose Bücher