Die Löwen
war schiefgegangen?
Ali atmete noch immer heftig, doch nach einigen Sekunden fuhr er fort: »Masud schickt mich, um euch zu warnen. An dem Tag, an dem ihr aufgebrochen seid, haben sie das ganze Fünf-Löwen-Tal nach euch abgesucht, mit Hunderten von Hubschraubern und Tausenden von Männern. Da sie euch nicht finden konnten, haben sie jetzt Suchtrupps ausgeschickt, die jedem Tal folgen sollen, das nach Nuristan führt.«
»Was sagt er?« unterbrach Ellis, der Aus hastig und atemlos hervorgestoßenen Worten nicht folgen konnte. Jane dolmetschte.
»Wie konnten die wissen, dass wir nach Nuristan wollten?« fragte Ellis. »Wir hätten doch genauso gut die Absicht haben können, uns irgendwo in dem verdammten Land zu verstecken.«
Jane fragte Ali. Er wusste es nicht.
»Gibt es auch einen Suchtrupp für dieses Tal?« wollte Jane von Ali wissen.
»Ja. Kurz vor dem Aryu-Paß habe ich die Soldaten eingeholt. Sie könnten das letzte Dorf noch vor Einbruch der Nacht erreicht haben.«
»O nein«, sagte Jane verzweifelt. Sie übersetzte für Ellis. »Wie können die nur so viel schneller gewesen sein als wir?« fragte sie. Ellis hob die Schultern. Und Jane beantwortete die Frage selbst: »Weil sie nicht durch eine Frau mit einem Baby behindert sind.
Oh, Scheiße!«
»Wenn sie morgen in aller Frühe aufbrechen, holen sie uns im Laufe des Tages ein«, meinte Ellis.
»Was können wir tun?«
»Uns sofort wieder auf den Weg machen.«
Jane spürte ihre tiefe Müdigkeit, und ein dumpfer Groll gegen Ellis stieg in ihr auf.
»Können wir uns nicht irgendwo verstecken?« fragte sie gereizt.
»Wo denn?« fragte Ellis. »Es gibt hier nur eine einzige Straße. Die Russen haben genügend Leute, um sämtliche Häuser zu durchsuchen – viele sind’s ja nicht. Außerdem stehen die Einheimischen hier nicht unbedingt auf unserer Seite. Es könnte durchaus sein, dass sie den Russen verraten, wo wir uns versteckt halten. Nein, unsere einzige Hoffnung ist, unseren Verfolgern ein Stück voraus zu bleiben.«
Jane warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war zwei Uhr früh. Sie dachte: Vielleicht sollten wir besser aufgeben.
»Ich werde das Pferd beladen«, sagte Ellis. »Du kannst inzwischen Chantal stillen.« Zu Mohammed sagte er in der Dari-Sprache: »Würdest du etwas Tee machen? Und Ali etwas zu essen geben?«
Jane ging ins Haus zurück, kleidete sich vollständig an und gab Chantal die Brust.
Währenddessen brachte Ellis ihr in einer Tonschale süßen grünen Tee. Sie trank dankbar.
Während Chantal saugte, fragte sich Jane, wie viel Jean-Pierre mit dieser erbarmungslosen Hetzjagd auf sie und auf Ellis zu tun haben mochte. Sie wusste , dass er bei der Razzia in Banda mitgeholfen hatte; sie hatte ihn ja selbst gesehen. Bei der Großaktion im Fünf-Löwen-Tal war seine Ortskenntnis sicher von unschätzbarem Wert gewesen. Zweifellos wusste er, dass man auf seine Frau und sein Kind Jagd machte. Wie konnte er es über sich bringen, den Russen dabei zu helfen? Offenbar hatte sich seine Liebe in Hass verwandelt, aus Groll und Eifersucht.
Chantal war satt. Wie schön musste es doch sein, dachte Jane, wenn man nichts wusste von Leidenschaft oder Eifersucht oder Verrat, wenn man nichts fühlte außer Wärme oder Kälte und Sattheit oder Hunger. »Genieße es, solange du kannst, kleines Mädchen«, sagte sie.
Eilig knöpfte sie ihr Hemd zu und zog ihren dicken Sweater glatt. Dann legte sie sich die Tragschlinge um den Hals, sorgte dafür, dass Chantal bequem darin lag, schlüpfte mit einiger Mühe in ihre Jacke und ging hinaus.
Im Schein einer Laterne studierten Ellis und Mohammed die Karte. Ellis zeigte Jane die Route. »Wir folgen dem Linar bis zu der Stelle, wo er in den Nuristanfluss mündet. Dann geht’s wieder aufwärts, wobei wir dem Nuristanfluss in nördlicher Richtung folgen.
Schließlich durchqueren wir eines dieser Seitentäler - welches, kann Mohammed erst sagen, wenn wir dort sind - und halten uns in Richtung Kantiwar-Paß. Ich möchte noch heute aus dem Nuristantal raus - dann ist es für die Russen schwieriger, uns zu folgen, weil sie nicht wissen, welches Seitental wir eingeschlagen haben.«
»Wie weit es ist?« fragte Jane.
»Nur gut zwanzig Kilometer. Ob’s leicht oder schwer sein wird, hängt natürlich vom Terrain ab.«
Jane nickte. »Dann lass uns aufbrechen«, sagte sie – und war ein bisschen stolz auf sich, weil aus ihrer Stimme mehr Zuversicht klang, als sie empfand.
Im Mondschein machten sie sich auf
Weitere Kostenlose Bücher