Die Löwen
ich fast ein halbes Jahr mit ihm gelebt, dachte sie, aber richtig gekannt habe ich ihn nie. »Ein Junge oder ein Mädchen?«
»Mädchen.«
»Wie alt ist sie jetzt?«
»Dreizehn.«
»Mein Gott.« Sie war ja so gut wie erwachsen. Plötzlich war Jane ungeheuer neugierig.
Weshalb hatte sie ihn denn nie nach all diesen Dingen gefragt? Wahrscheinlich, weil es sie nicht interessierte, bevor sie ein eigenes Kind bekam. »Wo lebt sie?« Er zögerte.
» Lass nur«, sagte sie. Sein Gesicht verriet ihr alles. »Du warst im Begriff, mich anzulügen.«
»Ja«, sagte er. »Aber weißt du auch, warum ich dich da anlügen müsste ?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Hast du Angst, deine Feinde könnten dir gefährlich werden, indem sie dein Kind gefährden?« »Ja.«
»Das ist ein guter Grund.«
»Danke. Und auch danke hierfür.« Er schwenkte die Landkarte in ihre Richtung und ging hinaus.
Chantal war mit der Brustwarze im Mund eingeschlafen. Jane löste sie sacht von sich und hob sie zur Schulter hoch. Chantal machte ihr Bäuerchen, ohne aufzuwachen. Das Kind ließ sich in seinem Schlaf durch nichts stören. Jane dachte an Jean-Pierre. Nun würde er also doch erst morgen kommen. Sie war sicher, dass er kein Unheil anrichten konnte.
Dennoch wäre es ihr lieber gewesen, ein Auge auf ihm zu haben. Aber nun ja. Da sie ihm sein Funkgerät kaputtgemacht hatte, konnte er mit den Russen keinen Kontakt aufnehmen. Eine andere Kommunikationsmöglichkeit gab es nicht zwischen Banda und russischem Territorium. Masud konnte Botschaften mit
Läufern schicken; aber Jean-Pierre hatte keine Läufer, und hätte er jemanden geschickt, so hätte das ganze Dorf davon gewusst . Die einzige Möglichkeit bestand darin, den ganzen Weg nach Rokha zu Fuß zurückzulegen, und dafür hatte er nicht genügend Zeit.
Aber von diesen Überlegungen einmal abgesehen: Es war ihr zuwider, allein zu schlafen.
In Europa hatte es ihr nichts ausgemacht, hier jedoch fürchtete sie die brutalen, unberechenbaren Männer, die es für normal hielten, dass ein Mann seine Frau schlägt, so wie eine Mutter ihrem Kind einen Klaps gibt. Und Jane war in den Augen dieser Männer keine gewöhnliche Frau: Mit ihren freien Ansichten und ihrem direkten Blick und ihrer ganz und gar nicht demütigen Art war sie ein Symbol für verbotene sexuelle Genüsse.
Sie hatte sich nie so verhalten, wie es, hiesigen Sitten zufolge, ihrem Geschlecht zukam, und die einzigen anderen Frauen, die sich frei und frech gaben, waren Huren.
Wenn Jean-Pierre da war, streckte sie immer die Hand aus, um ihn zu berühren, bevor sie einschlief. Er seinerseits kehrte ihr im Schlaf stets den Rücken zu, in sich zusammengekrümmt, und obwohl er sich nachts viel bewegte, tastete er niemals nach Jane. Der einzige andere Mann, mit dem sie über längere Zeit hinweg das Bett geteilt hatte, war Ellis gewesen – in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil von Jean-Pierre: Die ganze Nacht hindurch berührte und umarmte und küsste er sie, manchmal in halb wachem Zustand, nicht selten sogar im Schlaf. Und im Schlaf hatte er sogar versucht, sie zu lieben, ein wenig rau und ungelenk. Sie hatte kichern müssen und ihn gewähren lassen; doch schon nach wenigen Sekunden war er zur Seite gerollt und hatte zu schnarchen begonnen, und am Morgen hatte er sich an nichts erinnern können. Wie sehr unterschied er sich doch von Jean-Pierre! Ellis berührte sie mit gleichsam linkischer Zuneigung, wie ein Kind; Jean-Pierre dagegen berührte sie so, wie ein Geiger eine Stradivari handhaben mochte. Geliebt hatten die beiden Männer sie auf verschiedene Weise, getäuscht und hintergangen jedoch auf genau dieselbe Art. Chantal gurgelte. Sie war wach. Jane nahm sie auf den Schoß, und zwar verkehrt herum, sodass sie das Köpfchen des Kindes und seinen Rücken mit den etwas angezogenen Knien stützte; auf diese Weise konnten beide einander ansehen. Jane begann zu Chantal zu sprechen, teils mit erfundenen, teils mit richtigen Wörtern. Chantal mochte das. Nach einer Weile ging Jane der Gesprächsstoff aus, und sie begann zu singen. Sie war gerade bei Daddy’s gone to London in a puff ertrain, als sie von draußen durch einen Ruf unterbrochen wurde.
»Herein«, sagte sie, und zu Chantal: »Dauernd haben wir Besucher, nicht? Es ist, als wohnten wir in der Nationalgalerie!« Sie zog ihr Hemd zusammen, sodass nicht einmal die Brustansätze zu sehen waren.
Mohammed trat ein. In der Dari-Sprache sage er: »Wo ist Jean-Pierre?«
»Nach
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