Die Loewin von Mogador
ich dir verschwiegen habe, dass Emily dein Kind ist.“
„Mon dieu, nein! Was hättest du denn tun
sollen? Ich bin von uns beiden derjenige, der einen großen Fehler gemacht hat.
Ich habe deine Gefühle verraten – und meine auch.“ Er schluckte schwer. „Ich
verstehe, dass du Emily schützen wolltest, und das war auch mein Wunsch.
Deshalb habe ich all die Jahre geschwiegen, obwohl es nicht immer leicht war.“
„Ich habe Angst, dass die Leute Emily als
Bastard bezeichnen werden, wenn du öffentlich als ihr Vater auftrittst. Das
könnte ich nicht ertragen“, erklärte Sibylla besorgt.
„Sollte irgendjemand dieses Wort in den Mund
nehmen, bekommt er es mit mir zu tun“, erwiderte André angriffslustig. „Gerade
deshalb ist es gut, wenn Emily zu mir nach Qasr el Bahia kommt, bis die Wogen
sich wieder geglättet haben.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Die
Leute werden klatschen, aber das tun sie immer, und wenn es ihnen zu langweilig
geworden ist, über dich, mich und Emily zu klatschen, werden sie akzeptieren,
dass ich Emilys wirklicher Vater bin.“
Sibylla lehnte sich an ihn. „Hätte ich früher
gewusst, was du denkst, wäre vieles anders gekommen“, seufzte sie leise.
„Hättest du mir dann verziehen?“, fragte er
ernst.
Sie schwieg, aber sie ließ zu, dass er ihr
behutsam über das Haar strich.
Eine Woche später ritten Sibylla und Emily
bei Tagesanbruch aus der Stadt. Sie trabten durch das Bab El Mersa und schlugen
dann einen weiten Bogen nach Südosten ein, bis zur Mündung des Oued Igrounzar.
Dort wartete André, der Mogador durch ein anderes Tor verlassen hatte, um kein
unnötiges Aufsehen zu erregen. Nach einer kurzen Begrüßung ritt er mit Emily
und dem Packesel, der seine Einkäufe vom Souk trug, davon. Sibylla blieb
zurück. Bevor die Reiter hinter einer Biegung verschwanden, drehte André sich noch
einmal um. Sibylla hob zögernd die Hand und winkte. Sie blinzelte, nicht, weil
die aufgehende Sonne sie blendete, sondern weil Tränen in ihren Augen brannten.
Schließlich wendete sie ihr Pferd und ritt langsam zur Stadt zurück. Emily
hatte sich nicht umgedreht, und sie hatte ihr auch nicht auf Wiedersehen
gesagt.
„Wir sind bald da.“
Emily fuhr hoch und richtete sich im Sattel
auf. André musterte sie lächelnd. „Du bist es nicht gewohnt, den ganzen Tag zu
reiten, nicht wahr? Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir den Zufluss des Oued
Zeltene erreicht haben, und dann sind wir in einer halben Stunde zu Hause.“
Zu Hause, dachte Emily, bis jetzt war mein
Zuhause in Mogador. „Es wird dunkel“, sagte sie zu ihrem Vater. „Wir werden uns
verirren.“
„Mach dir deshalb keine Sorgen! Wir haben
Vollmond, und hier kenne ich jeden Stein. Ich würde den Weg mit verbundenen
Augen finden. Schau, dort ist der Abendstern aufgegangen.“
Emily blickte in den lavendelblauen Himmel,
wo ein einzelner heller Stern über der schwarz gezackten Linie der Berge
aufblinkte.
Es war ein angenehmer Tag zum Reiten gewesen,
warm, aber längst nicht so heiß wie im Sommer. Einmal hatte es leicht geregnet,
jedoch nur kurz, und danach war die Luft mild und weich wie Balsam. Neben ihnen
plätscherte der Oued Igrounzar durch sein steiniges Bett, nach den Regenfällen
des Herbstes führte er wieder Wasser. Im niedrigen Gesträuch am Wegesrand
raschelte und knisterte es, ein erster Nachtvogel rief in einem Jujubestrauch.
Emilys Pferd schnaubte. Sie tätschelte seinen Hals und lauschte dem
gleichmäßigen Klock-Klock der Hufe auf dem harten Boden. Mit klopfendem Herzen
dachte sie an die Menschen auf Qasr el Bahia, die Familie ihres Vaters, die
jetzt auch ihre Familie war.
„Vater?“ Auch das fiel ihr noch nicht leicht:
Den Mann, der so viele Jahre Monsieur Rouston für sie gewesen war, nun Vater zu
nennen.
„Ja, ma petite?“ Er drehte sich im Sattel zu
ihr.
„Weiß deine Familie, dass es mich gibt?“
André hatte Emily während des Rittes von
dieser Familie erzählt, dass seine Frau Aynur eine Berberin vom Stamm der
Glaoua war und sie sechs Kinder hatten. Die Älteste war fast gleichaltrig mit
Emily und hieß Malika. Auf Arabisch bedeutete ihr Name „Engel“, aber André
behauptete, dass sie alles andere als ein Engel wäre und nichts als Unsinn im
Kopf hätte. Seine drei Söhne Frédéric, Christian und André, der nur André
junior genannt wurde, hatten nach dem Willen Aynurs Namen aus der Heimat des
Vaters bekommen. Sie waren siebzehn, vierzehn und zehn Jahre alt.
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