Die Loewin von Mogador
Außerdem
hatte es noch zwei Mädchen gegeben, die jedoch im Kleinkindalter gestorben
waren.
André dachte lange über eine Antwort nach,
denn er wollte nicht, dass Emily ihn falsch verstand. „Meine Familie weiß
nichts von dir“, räumte er schließlich ein, „was aber nur daran liegt, dass ich
selbst erst seit ein paar Tagen ganz sicher weiß, dass du meine Tochter bist.“
„Ich kann nicht fassen, dass Mutter dich und
mich so viele Jahre angelogen hat!“, entfuhr es Emily.
Er sah sie ernst an. „Allein dein Wohl war
ausschlaggebend für ihre Entscheidung. Du darfst nicht so hart über sie
urteilen.“
Inzwischen war es fast dunkel. Riesig und zum
Greifen nah ging der Mond auf. Sein blassgelber Schein spendete genug Licht,
damit sie den Weg noch einigermaßen erkennen konnten. Der Wind trug den holzigen
Duft der Zedernwälder vom Atlas herunter. Emily meinte, Schatten durch das
Dickicht huschen zu sehen. Ihr Pferd scheute, als eine Eule mit lautlosem
Flügelschlag dicht über ihren Köpfen hinwegglitt.
„Glaubst du, hier gibt es Räuber?“, fragte
sie ängstlich, als sie das Tier wieder beruhigt hatte. In letzter Zeit war es
immer wieder vorgekommen, dass Reisende von Wegelagerern überfallen und
ausgeraubt worden waren. Die Kaufleute von Mogador heuerten deshalb schwer
bewaffnete Söldner aus der Schwarzen Garde des Sultans für die Bewachung ihrer
Karawanen an. Aber Emily und André hatten keinen Schutz außer das Gewehr ihres
Vaters.
„Hier gibt es keine Räuber. Wir sind zu weit
von der Karawanenstraße entfernt“, beruhigte André sie. „Mit den Ait Zelten,
die hier leben, komme ich gut aus. Viele von ihnen arbeiten auf dem Gut.“
Während seiner Anfangsjahre auf Qasr el Bahia
waren die Ait Zelten André nicht freundlich gesinnt gewesen. Die Hirten hatten
ihre Herden über seine Felder getrieben, ihre Ziegen und Schafe hatten seine
jungen Gerstenkeimlinge abgefressen und die Safrankrokusse zertreten. Nachts
hatten die Leute Früchte von seinen Obstbäumen gestohlen und versucht, in seine
Ställe und Vorratskammern einzubrechen. Erst als sein Freund Udad bin Aziki ihm
mit zwei Dutzend gut bewaffneter Chiadma zu Hilfe gekommen war, gaben die Ait Zelten
sich geschlagen, und ihr Scheich erkannte den Ausländer an.
Mit den Jahren waren sie gute Nachbarn
geworden. In Zeiten der Dürre und des Hungers, als sie einen Großteil ihrer
Herden verloren hatten, hatte André seine Vorräte mit ihnen geteilt. Im
Gegenzug halfen sie, wenn Arbeiten auf den Feldern und dem Hof anstanden. Nur
eine Handvoll junger Männer rebellierte gegen die unheilige Freundschaft mit
dem Ungläubigen, der sich in ihrem Gebiet eingenistet hatte. Doch solange der
Scheich mit dem ganzen übrigen Stamm zu André hielt, konnten sie nichts
ausrichten.
Emily lauschte. Das Rauschen des Flusses
schien ihr lauter als zuvor. „Haben wir den Oued Zeltene erreicht?“, fragte
sie.
Ihr Vater nickte und zügelte sein Pferd.
„Direkt vor uns liegt Qasr el Bahia.“
Sie folgte seinem ausgestreckten Arm mit den
Augen und sah das Gut auf einer Anhöhe liegen. Ein eckiger Koloss mit zwei
wuchtigen Türmen, der sich schwarz und majestätisch dort oben erhob. Darüber
auf einem unendlichen samtblauen Himmel glitzerten winzige Sterne. Plötzlich
glühten Lichter auf dem einen der beiden Türme auf, schwenkten ein paarmal von
rechts nach links und verschwanden. André drehte sich zu seiner Tochter: „Das waren
Signalfackeln. Man hat unsere Ankunft gehört.“
Bald darauf tauchten die Lichter wieder auf
und tanzten durch die Dunkelheit auf die beiden Reiter zu. Bedächtig einen Huf
vor den anderen setzend, stiegen die Pferde und der Packesel ihnen entgegen.
Unter ihnen rauschte Wasser durch die Rethare zu den Terassenfeldern, die
rechts und links des schmalen Pfades lagen. Im fahlen Licht des Mondes erkannte
Emily die buckligen grauen Steinmauern, die die Äcker begrenzten, auf denen
noch die kopflosen Stengel der geernteten Safranpflanzen standen. Dazwischen
wuchsen im Abstand von ungefähr einer Pferdelänge reihenweise Granatapfelbäume,
deren Äste wie dünne schwarze Ärmchen emporragten.
Emily hörte die Fackelträger rufen. Nicht
mehr lange, und sie würde ihre neue Familie kennenlernen.
„Wird deine Frau mich willkommen heißen,
Vater?“, erkundigte sie sich mit klopfendem Herzen.
André zögerte mit der Antwort. Über diese
Frage dachte er nach, seit Emily ihm eröffnet hatte, dass sie bei ihm leben
wollte. Er fürchtete,
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