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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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Gespräch mit
seiner Frau geführt und ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass sie
gegenüber Außenstehenden weder etwas über die Gründe für Emilys plötzliche
Abreise erwähnen durfte noch darüber, wo sie sich aufhielt. Seither verließ
Victoria das Haus kaum noch, und Sibylla vermutete, dass die junge Frau sich in
Mogador einsamer und unglücklicher denn je fühlte.
    Auf dem jüdischen Friedhof, einem staubigen
ungepflegten Stück Erde, hatte der Trauerzug sich inzwischen um das Grab
versammelt. Der Rabbi las laut aus dem Buch Genesis, und Kaid Samir ging mit
seinem Gefolge in die Stadt zurück. Auch die Kaufleute brachen auf.
    „Guten Tag, Mrs. Hopkins. So ein Wetter
wünscht man sich zum Sterben, nicht wahr?“ Sibylla drehte sich überrascht um.
Direkt hinter ihr stand Sara Willshire und lächelte nervös.
    Sibylla murmelte einen Gruß und wollte gehen,
aber Sara sagte eilig: „Wo ist eigentlich Emily? Sie ist doch nicht krank? Ich
habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“
    Sibylla fühlte, wie sie wütend wurde. Was
fiel dieser Frau ein, scheinheilige Fragen zu stellen! Schließlich war sie mit
ihrem Tratsch schuld, dass Emily fort war!
    „Habe ich das richtig verstanden? Sie fragen
mich wirklich, wo meine Tochter ist?“, erwiderte sie scharf.
    „Ich wollte nur meiner nachbarlichen Pflicht
nachkommen und mich nach Emilys Wohlergehen erkundigen“, kam es gekränkt von
Sara.
    „Nun, wenn das so ist, will ich Ihre Frage
beantworten.“ Sibylla maß sie mit einem vernichtenden Blick. „Emily ist bei
ihrem Vater.“
    „Bei ihrem Vater?“, stotterte Sara. „Wie
meinen Sie das? Ich meine, wie ist das möglich?“
    „Aber Mrs. Willshire, Sie erstaunen mich. Sie
wissen doch ganz genau, wie das möglich ist. Sie haben doch selbst dazu beigetragen!“
    Errötend schlug Sara die Augen nieder. „Ich
habe es nur gut gemeint. Und was Sie mir vorwerfen, ist ungerecht. Jeder in
Mogador kennt die Wahrheit. Über kurz oder lang hätte Ihre Schwiegertochter es
ohnehin erfahren, und Emily auch.“
    Sibyllas Nasenflügel bebten. „Dazu habe ich
nur eines zu sagen, Mrs. Willshire: Versuchen Sie nie wieder, einem Mitglied
meiner Familie Gift ins Ohr zu träufeln!“
    Sara wurde blass. „Sie können niemals
verzeihen, nicht wahr, Sibylla?“

Kapitel
sechsundzwanzig – Qasr el Bahia im Frühsommer
     
    „Die Frauen und die größeren Kinder arbeiten
heute auf dem oberen Terrassenfeld“, verkündete André beim Frühstück. „Alle
Pflanzen mit mehr als drei Knollen werden aus der Erde genommen, geteilt und
umgesetzt.“
    Nach einem halben Tag Arbeit auf dem Feld
rieb Emily sich verstohlen den schmerzenden Rücken. Niemand sollte merken, wie
anstrengend sie die Feldarbeit fand. Aynur jedoch entging die Geste nicht. Sie
ahnte, wie das Stadtmädchen sich fühlte. Schließlich war sie selbst einst ein
verzärteltes Geschöpf gewesen, dessen anstrengendste Tätigkeit darin bestanden
hatte, Blumen im Garten des Harems zu pflücken.
    André hatte damals auf ihre Klagen und Tränen
wenig Rücksicht genommen. Auch, dass die Sonne ihren zarten Teint verbrannt und
die ungewohnte Arbeit ihren weichen Händen Blasen zufügte, hatte ihn nicht
interessiert.
    „Du kannst jederzeit zu deinem Volk
zurückkehren“, hatte er gesagt. „Aber wenn du bleiben willst, musst du mein
Leben mit mir teilen. Ich brauche hier keine zimperliche Haremsprinzessin,
sondern eine Frau, die dieses Gut mit mir bewirtschaftet.“
    Er hatte sie nicht geschont in dieser ersten
Zeit, und sie wusste, dass es seine Art gewesen war, sie zu strafen, weil sie
die Engländerin vertrieben hatte. Aber sein Verhalten hatte ihren Stolz
angestachelt. Sie wollte sich beweisen, und sie wollte den gutaussehenden
Ausländer für sich gewinnen, auch wenn er die Engländerin in seinem Herzen
trug. Nicht ein einziges Mal bekam er mit, wenn sie vor Erschöpfung oder
Einsamkeit weinte. Sie biss sich durch und kämpfte um seinen Respekt.
Irgendwann hatte sie gemerkt, dass ihr dieses Leben weit mehr lag als die
Langeweile des Nichtstuns im Harem. Sie besann sich auf ihr Glaoua-Erbe, auf
den Stolz ihres Volkes, seinen Freiheitswillen und die Liebe zum Land, und sie
fragte sich, wie sie es so viele Jahre eingesperrt hinter Mauern ausgehalten
hatte.
    Als ihre Schwangerschaft sichtbar wurde,
änderte André sein Verhalten ihr gegenüber. Er freute sich auf das Kind,
achtete darauf, dass sie sich nicht überanstrengte. Dann kam der Tag, als das
Kind in ihrem Leib sich

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