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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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zum ersten Mal bewegte. Sie hatte seine Hand genommen
und sie auf ihren Bauch gelegt, und da hatte er sie zum ersten Mal angelächelt.
Aber erst als Tamra ihm die neugeborene Malika in den Arm gelegt und er das
Baby mit einem zärtlichen, erstaunten Gesichtsausdruck betrachtet hatte, wusste
sie, dass er sie nicht mehr wegschicken würde.
    Lange noch hatte sie befürchtet, dass die
Engländerin zurückkommen und André für sich fordern würde. Doch seltsamerweise
war sie nie mehr auf Qasr el Bahia aufgetaucht. Dafür musste Aynur jetzt jeden
Tag mitansehen, welch großen Platz die Tochter der Engländerin im Herzen ihres
Mannes besaß, aber sie begehrte nicht dagegen auf. Vielleicht hatte er die
Engländerin mehr geliebt als sie, aber seine Kinder liebte er alle mit der
gleichen Hingabe. Außerdem wusste sie, wie unersetzlich sie für André geworden
war. Die Engländerin war eine verwöhnte Städterin, die dem Leben hier draußen
bestimmt nicht gewachsen war. Ihre Tochter allerdings, das musste Aynur
zugeben, schlug sich wacker. Sie beklagte sich nie oder drückte sich vor der
Arbeit und bemühte sich, mit ihren Halbgeschwistern mitzuhalten. Sie versuchte,
Malika nachzuahmen, die sich im Gehen über die frisch gepflügte Ackerfurche
beugte, ein Bündel Safranknollen herausnahm und in ihren Korb über dem Arm
warf, ohne den Rhythmus ihrer Schritte zu unterbrechen.
    Der kleine Crocus Sativus, dessen winzige
Blütenstempel das wertvollste Gewürz der Welt abgaben, blieb vier Jahre auf
demselben Feld. Dann mussten die Knollen aus der Erde genommen, geteilt und an
einen neuen Standort gesetzt werden. Dafür waren, genau wie für die Ernte des
Safrans und etliche andere Arbeiten auf dem Gut, viele helfende Hände nötig,
die André bei den Ait Zelten anwarb.
    Christian hatte ein Maultier vor einen
einfachen Pflug aus einer hölzernen Stange mit einem eisernen Haken am Ende
gespannt. Er ging hinter dem Pflug und dirigierte das Maultier mit Zügeln und
Zurufen, während die Krokusknollen freigelegt wurden. Die Frauen klaubten sie
auf und warfen sie in Körbe, die sie über dem Arm trugen. War der Korb voll,
stellten sie ihn auf dem Feld ab, Kinder trugen ihn an den Rand, schütteten ihn
aus und teilten die Knollen. Danach wurden sie in den Speicher gebracht, wo sie
trocken, dunkel und luftig lagerten, bis sie Ende Juli, nach der Gerstenernte,
an einem neuen Platz ausgepflanzt wurden.
    Die Frauen vom Stamm der Ait Zelten in ihren
bunten Röcken waren wie Farbtupfer über die braune Erde verstreut. Emily hatte
ihre sonnengegerbten Gesichter mit Kohlestift oder Ölfarbe und Pinsel schon oft
eingefangen. Mütter, die sich ihre Babys in Tragetüchern auf den Rücken
gebunden hatten, und die eifrig herumwuselnden Kinder, die immer Zeit fanden,
Fangen zu spielen oder das Maultier zu streicheln. Emily bedauerte, dass es ihr
nicht möglich war, auch die Geräusche und Gerüche auf der Leinwand abzubilden: Den
melodisch rollenden Singsang der Berbersprache, das Lachen der Kinder, das
leise Klingeln des Silberschmucks der Frauen und den Geruch der Erde.
    Leinwände, Farben, Kohlestifte und
Zeichenblocks hatte sie als Erstes für ihren Umzug nach Qasr el Bahia
eingepackt. Erst war sie unsicher gewesen, ob Andrés Familie und die Ait Zelten
sich malen lassen wollten. Schließlich verbot der Islam die bildliche
Darstellung von Allahs Schöpfung. Doch weder Andrés Familie noch die Ait Zelten
störten sich daran, wenn Emily sie malte. Im Gegenteil: Die Menschen fanden
Gefallen daran, sich auf den Bildern zu betrachten, und waren stolz, wenn sie
als Modell ausgewählt wurden. Auf dem Land, weit weg von den Glaubenshütern in
den Städten gestalteten die Menschen ihre Religion recht eigenwillig. Die Ait Zelten
hingen dem Glauben an Naturgeister, Omen und Symbole genauso an wie dem an Allah.
Andrés und Aynurs Kinder hielten die Gebetszeiten ein, aber nur ihrer Mutter
zuliebe, hatte Frédéric Emily anvertraut, und André selbst sagte, dass er
lieber dem gesunden Menschenverstand als irgendeinem Gott vertraute.
    Sechs Monate lebte Emily nun schon hier und
hatte den Alltag auf dem Gut in vielen Bildern und Zeichnungen verewigt: Ihren
Vater und Frédéric, wie sie auf dem Dreschplatz vor dem Stall ein Pferd
beschlugen; André junior, der stolz auf einem Ast der silberblauen Atlaszeder
im Hof thronte; die alte Tamra, die in der Sonne vor dem Haus auf einer Bank
döste; zwei barfüßige Berberjungen, die eine Ziegenherde entlang der

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