Die Loewin von Mogador
die durch das halb geöffnete Tor jagten. Er schätzte,
dass es zehn, höchstens zwölf waren. Den Anführer erkannte er sofort an dem
Feuermal, das quer über sein Gesicht verlief.
Wütend rannte er los, die Schaufel in der
Faust. „Verdammt! Was wollt ihr schon wieder? Könnt ihr uns nie in Ruhe
lassen?!“
Auf dem Hof herrschte wildes Durcheinander.
Die Berber dirigierten ihre Pferde behände zwischen den eng stehenden Zelten
hindurch und ritten rücksichtslos jeden über den Haufen, der nicht schnell
genug zur Seite sprang. Männer brüllten, Frauen kreischten, Kinder weinten,
Schreckensrufe vermischten sich mit Schmerzensschreien, kopflos fliehende
Menschen rannten sich gegenseitig um.
„Christian! Pass auf!!“ Entsetzt beobachtete
André, wie sein Sohn stolperte und fiel. Aber Frédéric war dicht hinter ihm und
riss ihn in letzter Sekunde vor den heranrasenden Pferdehufen zurück.
„Zum Turm! Schnell!“, brüllte André gegen den
Lärm an und gestikulierte wild mit der Schaufel. Frédéric packte seinen
jüngeren Bruder am Arm, hetzte mit ihm zu dem nur wenige Meter entfernten
Wehrturm und stieß ihn vor sich die rettende Leiter hinauf.
André sah sich hektisch um. Wo steckten seine
anderen Kinder, wo Aynur? Vergeblich versuchte er, in dem Durcheinander von
rennenden Menschen, galoppierenden Pferden, zusammengestürzten Zelten,
vereinzelt krachenden Schüssen und Schreien den Rest seiner Familie zu finden.
Dann entdeckte er Emily und Malika. Wie gelähmt standen sie in der Nähe des
Kücheneingangs und starrten auf den Tumult.
„Weg!“, schrie André verzweifelt. „Ins Haus
mit euch!“
Doch sie waren viel zu weit entfernt und
hörten ihn nicht.
„Imma! Imma!“ André junior hatte irgendwo im
Getümmel seine Mutter entdeckt und versuchte, sich an seinen Schwestern vorbei
ins Freie zu drängen. Zum Glück packten Emily und Malika den Kleinen
rechtzeitig am Hemd, zerrten ihn mit sich ins Haus und warfen die Tür zu.
André sah Aynur nun ebenfalls. Sie kniete
neben Tamra. Die alte Dienerin war im Tumult von ihrem Lehnstuhl gestoßen
worden und lag hilflos auf dem Boden. Die beiden Reiter, die von hinten in
vollem Galopp angeritten kamen, bemerkte Aynur bei ihren Bemühungen, der Alten
aufzuhelfen, nicht.
„Da! Das ist die Kleine! Die will ich für
mich!“, schrie der vordere der Männer und zügelte sein Tier. „Und danach…“ Er
deutete eine zackige Bewegung vor seiner Kehle an. „Und dann kassieren wir
unsere Belohnung!“ Lachend hieb er seinem Pferd die Fersen in die Flanken.
„Warte!“, schrie da der Zweite. „Das ist die
Falsche! Wir sollen das Franzosenbalg töten!“
„Die Falsche? Auf dem verfluchten Gut sind
sie alle Verräter!“ Sein Kumpan legte das Gewehr an.
André stieß einen markerschütternden Schrei
aus und sprintete los. Die Angst um Aynur verlieh ihm ungeheure Schnelligkeit.
Mit dem Mut der Verzweiflung warf er sich vorwärts. Es gelang ihm, dem vorderen
der beiden Reiter den Weg abzuschneiden.
In diesem Moment krachte neben ihm der
Schuss. Aynur schrie auf, dann sackte sie über dem immer noch am Boden
liegenden Körper von Tamra zusammen.
„Nein!“, brüllte André. Er schwang die
Schaufel hoch über seinem Kopf und schlug auf den Reiter, der geschossen hatte,
ein. Es knirschte, als die volle Wucht des Schlages das Genick des Angreifers
traf. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand, sein Hals knickte zur Seite. Als er vom
Pferd stürzte, registrierte André seinen im Tod erstarrten verblüfften
Gesichtsausdruck.
„Ayyyy!!“, erscholl unmittelbar neben ihm
lautes Geheul. „Das wirst du büßen, Ungläubiger!“
André fuhr herum und konnte gerade noch den
Hufen eines steigenden Pferdes ausweichen. Die Fratze des Reiters war von
Mordlust verzerrt, ein gezacktes Feuermal verlief quer über sein Gesicht.
André verspürte einen Hass, wie er ihn noch
nie in seinem Leben empfunden hatte. Dieser Mann hatte seine Familie in Gefahr
gebracht. Er war schuld, dass auf seinem Grund und Boden Menschen um ihr Leben
rannten, dass Aynur von einer Gewehrkugel getroffen worden war. Er würde den
Mann töten, und wenn es das Letzte war, was er tat! Mit Schwung riss er die
Schaufel empor, aber der andere war schneller und drängte sein Pferd gegen ihn.
André stolperte und verlor die Schaufel. Er zog sein Messer aus der
Gürtelscheide. Doch da sauste schon der Gewehrkolben auf ihn herunter. Gleich
darauf zuckte ein ungeheurer Schmerz durch seinen Schädel. Er riss beide
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