Die Loewin von Mogador
setzte sie sich auf den Diwan und blickte von einem zum
anderen. „Hoffentlich wurde niemand ernsthaft verletzt!“
John rührte in seiner Tasse. „Das hoffen wir
alle.“
Eine halbe Stunde später war der Torwächter
zurück und brachte die Nachricht, dass kurz vor Sonnenaufgang eine bewaffnete
Eskorte des Kaids vor der Stadtmauer warten würde. Sie hatte den Auftrag, die
kleine Reitergruppe und die Menschen auf Qasr el Bahia mit ihrem Leben zu
beschützen und das Gelände nach den Angreifern abzusuchen.
Außer Thomas war auch Sabri bin Abdul mit dem
Torwächter eingetroffen. Die beiden Ärzte erkundigten sich als Erstes, wie
viele Verletzte es gab und welche Verwundungen sie hatten. Aber das wussten
weder Sibylla noch John.
Sabri bot an: „Ich kehre zum Maristan zurück
und werde ein Maultier mit Medikamenten, Verbandszeug und chirurgischen
Instrumenten beladen. Dann kannst du, Thomas, bei deiner Familie bleiben.
Morgen früh treffen wir uns alle am Stadttor.“
„Sie wollen uns begleiten?“, fragte Sibylla.
„Natürlich“, antwortete Sabri, dem der
Gedanke, dass Emily verletzt sein könnte, keine Ruhe ließ. „Wir wissen nicht,
was uns erwartet. Ein Arzt ist vielleicht nicht genug.“
Am frühen Abend des nächsten Tages trafen
Sibylla, Frédéric, Thomas und Sabri zusammen mit sechs bewaffneten
Kavalleristen aus der Stadtwache des Kaids vor den Toren von Qasr el Bahia ein.
Die Sorge hatte sie vorwärtsgetrieben. Sie hatten sogar im Sattel gegessen und
nur Pause gemacht, um die Pferde trinken zu lassen. Nun waren Menschen und
Tiere völlig erschöpft.
Die Stimmung in der kleinen Gruppe war immer
gedrückter geworden, je näher sie dem Gut kamen. Thomas und Sabri unterhielten
sich leise darüber, welche medizinischen Notfälle sie möglicherweise versorgen
mussten. Frédéric starrte düster vor sich hin, Sibylla war mit ihren Gedanken
bei Emily und André. Dennoch entging ihr nicht, wie verwüstet das Land aussah,
durch das sie ritten. Schwärme von Krähen und Raben kreisten am Himmel und
fielen über die unzähligen Heuschrecken her wie über ein Festmahl. Sibylla
hatte noch nie so viele dieser Insekten auf einmal gesehen und konnte ein
Schaudern kaum unterdrücken. Sie saßen auf der Erde, im Gebüsch und in den
Bäumen, sirrten in kleinen Schwärmen durch die Luft, fielen auf ihr Haar, in
die Falten ihrer Kleidung und auf ihr zusehends nervöser werdendes Pferd. Zwei
Hirten, denen sie unterwegs begegnet waren, versicherten jedoch, dass das nur
der letzte Rest eines gewaltigen Schwarmes war, der auf seinem Weg nach
Südwesten in Richtung Meer die Sonne verdunkelt und den Tag zur Nacht gemacht
hatte. Doch die abgefressene Landschaft zeugte davon, dass hier eine
Heimsuchung biblischen Ausmaßes stattgefunden hatte. Bäume und Büsche waren
kahl und blattlos, und für die Pferde war nicht ein trockener Grashalm zum
Fressen übrig. Zum Glück hatte John darauf bestanden, dass sie Futter
mitnahmen.
Im schwindenden Tageslicht lag Qasr el Bahia
abweisend und dunkel auf der Hochebene vor der kleinen Reitergruppe. Weder auf
den beiden Wehrtürmen noch in den eisernen Halterungen rechts und links des
Tores brannten Fackeln. Alles wirkte unheimlich still, fast unbewohnt.
Frédéric sprang vom Pferd und polterte mit
beiden Fäusten ans Tor. „Ich bin es! Macht auf! Ich habe Hilfe mitgebracht!
Hört ihr? Macht auf!“
Sibylla schlug das Herz bis zum Hals. Was
erwartete sie im Inneren? War Emily wirklich unverletzt? Und wie ging es André?
Sie mochte sich nicht ausmalen, dass sie zu spät gekommen sein könnten und er
an seiner schweren Kopfverletzung gestorben war.
Auf der anderen Seite des Tores knarrte und
schabte es, ein Balken wurde zurückgeschoben, dann eine Kette gelöst, und die
Flügel schwangen gerade so weit auf, dass ein einzelner Reiter hindurchpasste.
Kaum war der letzte auf dem Hof, verrammelte und verriegelte der schmächtige
Halbwüchsige, der sie erwartete, das Tor wieder.
„Frédéric! Ich bin so froh, dass ihr zurück
seid!“ Der Junge wirkte verängstigt und musterte die Neunankömmlinge
vorsichtig.
Frédéric sprang vom Pferd und umarmte ihn.
„Christian! Hast du gut auf alle aufgepasst? Wie geht es Baba und Imma?“
„Nicht gut.“ Christian schüttelte verzweifelt
den Kopf.
„Wo sind die Verletzten?“, erkundigte Thomas
sich. Sabri hatte bereits angefangen, das Gepäck des Maultiers abzuladen.
Knechte kamen, um sich um die Pferde zu
kümmern.
Sibylla rutschte aus
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