Die Loewin von Mogador
sich nicht gehörte, andere Menschen zu belauschen, doch dann
siegte die Neugier. Sie bückte sich und spähte durchs Schlüsselloch. Der Fremde
stand ein Stück von der Tür entfernt und drehte ihr den Rücken zu, so dass sie
nur seinen schwarzen Umhang und seinen schwarzen Turban sah. Hinter ihm, halb
verdeckt von seiner dunkel verhüllten Gestalt, entdeckte Emily ihre Mutter, und
sogar durch den eingeschränkten Blick des Schlüssellochs bemerkte sie den
namenlosen Schrecken in ihrem Gesicht.
„Guten Tag, Sibylla. Wieso schaust du mich so
an? Erkennst du deinen Ehemann nicht mehr?“ Der Fremde zog sich den Schal
herunter.
„Benjamin?!“, stammelte Sibylla, und dann
noch einmal: „Benjamin?“ Sie hatte ihn an der Stimme erkannt, seiner leicht
näselnden, hochmütigen Stimme, die wie das Echo einer fernen Zeit in ihr
widerhallte, und an dem Blick seiner eisblauen Augen. Doch richtig glauben
konnte sie es nicht – immerhin hatte sie zweiundzwanzig Jahre geglaubt, er wäre
tot, verbrannt in einem Feuer, das niemand überlebt haben konnte. Doch dort
stand er vor ihr, bleich und
eingefallen, das Gesicht von Narben und Wülsten bedeckt, als wäre flüssiges
Wachs darauf erstarrt, ohne Wimpern, Brauen und richtige Nase. Sie hatte das
Gefühl, einem Geist gegenüberzustehen, einer plötzlich über sie
hereinbrechenden Gefahr und erschauderte vor Angst.
Wissend verzog Benjamin seinen lippenlosen
Mund zu einem hässlichen Grinsen. „Ich habe mich ziemlich verändert, nicht
wahr, meine Liebe? Aber das gilt auch für dich. Du bist älter geworden.“ Bevor
sie zurückweichen konnte, war er bei ihr und berührte ihr mehr weißes als
blondes Haar mit Fingern, die Klauen glichen, schwulstig und zerklüftet. Voller
Abscheu schreckte sie zurück, aber er packte sie blitzschnell am Handgelenk.
„Schau sie dir nur an, meine neue Haut! Ein Jahr hat es gedauert, bis ich
hineingewachsen bin.“
„Lass mich sofort los!“ Mit einem Ruck
befreite Sibylla sich und wich hinter ihr Schreibpult zurück – ein geringer
Schutz nur, aber wenigstens ein Schutz.
„Beruhige dich, Sibylla! Dein Geld war für
mich schon immer attraktiver als du. Aber du hast auch immer deine Bücher mehr
geliebt als mich .“
Er trat zu dem Abakus, ihrem Rechenapparat,
der in einem großen Holzrahmen auf einem Rollgestell vor einer Wand stand, und
schob müßig ein paar Kugeln über die Drähte.
„Wie hast du das Feuer überlebt? Ich habe die
Ruinen gesehen. Niemand konnte es da herausschaffen.“ Sie starrte auf seinen
Rücken, versuchte immer noch, zu begreifen, dass das wirklich und wahrhaftig
Benjamin war, der dort stand.
Er bewegte sich unbehaglich, nicht wegen
ihrer Frage, sondern weil der Stoff des Umhangs auf seiner vernarbten Haut
schabte. Nie würde er sich an dieses Gefühl der Enge gewöhnen, als wäre er in
einen zu kleinen Anzug eingenäht worden. Erneut schubste er eine der Holzkugeln
an. Leise sirrend sauste sie über den Draht und prallte klickend an den Rahmen
des Abakus.
Nicht nur seine Entstellungen quälten ihn.
Auch die schrecklichen Bilder der Bombardierung verfolgten ihn so klar und
deutlich, als wäre er dem Inferno erst gestern entronnen und nicht vor vielen
Jahren. Immer noch hörte er das markerschütternde Krachen der Kanonenkugeln,
den Einschlag der Brandkarkasse ,
der seine Angstschreie verschluckt hatte. Immer noch spürte er wie Sand und
Staub, Mörtel und kleine Gesteinsbrocken auf ihn herabregneten, immer noch
musste er sich zusammenreißen, um nicht wimmernd auf die Knie zu fallen, die
Arme schützend über den Kopf gerissen, während rings um ihn die Luft vor Hitze
flirrte und nach Schießpulver und Schwefel stank.
Er dachte, dass er Sibylla allein dafür
hasste, dass sie mit ihren Fragen an all dies rührte. Seine Finger sich um den
Holzrahmen des Abakus krampften.
„Wo bist du all die Jahre gewesen?“, wollte
Sibylla wissen. „Warum hast du dich nie gemeldet, bist nie zurückgekommen?“
„Sei still!“ Er fuhr herum, sein Umhang flog,
und sie zuckte erschrocken zusammen. „Willst du mir vormachen, dass du mich
vermisst hast? Das kannst du bleiben lassen! Ich weiß, dass du dich mit dem
Franzosen getröstet hast, bevor auch nur der erste Monat der Trauer um deinen
so grausam umgekommenen Ehemann herum war. Und ich weiß noch einiges mehr!“
Sie umklammerte die Kante des Schreibpultes,
und ihr wurde eiskalt, als sie daran dachte, dass Emily jeden Moment
hereinkommen könnte, um nachzusehen,
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