Die Loewin von Mogador
warum ihre Mutter so lange brauchte, um
ein paar Unterlagen zu holen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was Benjamin
tun würde, wenn er Emily entdeckte und anfing, Fragen zu stellen.
Aber vorläufig fragte Benjamin nichts. Er war
in bittere Erinnerungen versunken. Zwischen
seinem alten Leben als angesehener Kaufmann Benjamin Hopkins und seinem neuen
Dasein als vom Feuer gezeichneter Niemand lag fast ein Jahr der Dunkelheit.
Begonnen hatte dieses neue Leben mit unsagbaren Schmerzen im Marinehospital auf
Gibraltar. Militärärzte und Pfleger hatten ihm erzählt, was er selbst nicht
mehr wusste: Französische Soldaten hatten ihn nach der Bombardierung der Insel
Mogador am Strand gefunden. Bewusstlos, nackt und von furchtbaren Verbrennungen
bedeckt, hatte er zwischen toten Kameraden gelegen. Die Franzosen hatten ihn
für einen der ihren gehalten, auf eines ihrer Kriegsschiffe geschafft und ihn
mit anderen Verwundeten nach Gibraltar gebracht. Dort hatte man ihn nur zum
Sterben behalten, doch er hatte sich zur Verwunderung aller verbissen an sein
letztes bisschen Leben geklammert.
Als es ihm endlich besser ging und die Ärzte
vorsichtig davon sprachen, dass er überleben könnte, wusste er längst, dass das
ein ganz neues Leben sein musste. Nach Marokko konnte er nicht zurück, denn
dort würde man ihn sofort wieder verhaften. Also verkroch er sich in London,
tauchte in dieser riesigen Stadt unter und baute sich mit einem kleinen Im- und
Exporthandel eine neue Existenz auf. Sein Talent als Kaufmann war das Einzige,
was ihm geblieben war. Er machte gute Geschäfte und hätte unbehelligt bis ans
Ende seiner Tage weiterleben können. Der Gedanke an sein Vermögen jedoch, das
unter der Sonnenuhr in seinem Riad in Mogador schlummerte, ließ ihn nie los.
Aber erst nach zwanzig Jahren hatte er die Kraft und den Mut, es zu holen.
„Du hättest zurückkommen können, Benjamin.“
Sibyllas Stimme drang in seine Erinnerungen. „Ich war doch bei Abd Er Rahman,
erinnerst du dich nicht mehr? Er hat dich begnadigt. Du warst frei!“
Sekundenlang schwankte der Boden unter ihm,
als er begriff, dass er sich fast sein halbes Leben umsonst versteckt hatte.
„Ist das wahr?“, fragte er tonlos. „Hast du
das wirklich geschafft?“
„Ich hatte Hilfe.“ Sie dachte an André.
„Richtig!“, höhnte er. „Du warst ja mit
Rouston beim Sultan. Ich bin sicher, dass du ihn gut für seinen Beistand
entlohnt hast!“
„Was fällt dir ein?!“
„Plötzlich so tugendhaft, meine Liebe?“ Der
Saum seiner Djellaba schlängelte durch die Luft, als er mit raschen Schritten
auf sie zukam. „Stimmt es etwa nicht, was man sich in Mogador erzählt?“
Vor Schreck verschlug es Sibylla die Sprache,
aber er redete schon weiter: „Dass du mein Gold den Mauren in den
nichtsnutzigen Rachen geworfen hast? Häuser, Schulen, sogar eine Wasserleitung
hast du für die gebaut, die mich einst verhaften ließen. Dass du so dumm und
sentimental sein kannst, habe ich dir wirklich nicht zugetraut!“
Zornig hieb Benjamin mit den Fäusten auf das
Schreibpult. Wie hatte er nach seinem Schatz gegraben, erst mit der Schaufel,
dann mit bloßen Händen, nur um zu entdecken, dass alles verschwunden war, dass
nicht ein einziger Gold-Sovereign mehr unter der Sonnenuhr lag! Danach hatte er
in dem winzigen Zimmer, das er im Fondouk gemietet hatte, gesessen und
gegrübelt, bis ihm klar wurde, dass nur Sibylla sein Gold gefunden haben
konnte. Er selbst hatte ihr damals bei ihrem Besuch auf seinem Inselgefängnis
den Hinweis gegeben, als er sie gefragt hatte, wie viel Geld die Soldaten von
Kaid Hash Hash gefunden und wo sie gesucht hätten. Sie musste das ganze Haus
auf den Kopf gestellt haben, aber schließlich hatte sie sein Gold gefunden.
„Du warst der Einbrecher in meinem Haus!“,
flüsterte sie. „Du wolltest dir dein blutiges Sklavengold holen.“
Er musterte sie hasserfüllt. „Genug geredet!
Kommen wir zum Geschäft: Wie willst du mich für meinen Verlust entschädigen?“
Verzweifelt suchte Sibylla nach einer
Antwort, nach einem Ausweg aus diesem Alptraum. Dann fiel ihr die Waffe in der
Lade ihres Schreibpultes ein, Andrés alter Armeerevolver, den er ihr gegeben
hatte, weil er fand, dass sie in dem prall gefüllten Lagerhaus viel zu
ungeschützt war. Wenn sie ihn
unbemerkt in die Hand bekam, konnte sie Benjamin in Schach halten und
gleichzeitig nach Emily rufen, damit sie Hilfe holte. Es war riskant, aber ihre
einzige Möglichkeit. Ihre Finger
Weitere Kostenlose Bücher