Die Loewin von Mogador
hervorragend geeignet. Unten liegen der Küchentrakt
und mehrere Wirtschaftsräume. Oben befinden sich die Schlaf- und Wohnräume, und
das Dach bietet eine Terrasse mit wunderbarer Aussicht über Stadt und Meer.“
„Es ist wunderschön“, raunte Sibylla
andächtig, „wie in einem Märchen.“
„Ich nehme an, dass man englischen Komfort
nicht erwarten darf“, ließ Benjamin sich vernehmen.
Willshire lächelte nur. „Es ist natürlich
nicht so modern wie ein englisches Haus, aber Sie dürfen mir glauben, dass die
Araber viel von Komfort verstehen. Ach, da kommt ja meine Frau!“
Eine junge Frau tauchte aus einer der Türen
im Erdgeschoss auf und eilte auf sie zu. „Da sind Sie ja endlich! Wir erwarten
Sie seit Tagen! Aber dieser schreckliche Nebel wollte sich einfach nicht
lichten. Ich bin Sara Willshire. Herzlich willkommen in Mogador! Sie sehen aus,
als würde Ihnen jetzt ein Glas Tee guttun. Ich habe ihn auf marokkanische,
nicht auf englische Weise zubereiten lassen, aber keine Angst – er schmeckt
köstlich!“ Sara klatschte in die Hände, und eine Schwarze kam aus dem Haus. Sie
trug ein silbernes Tablett mit Gläsern und einer Teekanne, aus der es nach
Minze duftete.
Sibylla schmeckte der Tee hervorragend, aber
Benjamin meinte: „Ein guter englischer Tee wäre mir lieber.“
„Ich verstehe genau, wie Sie sich fühlen“,
erwiderte Sara lachend. „Hier ist wirklich alles anders als in unserem guten
alten England.“
Kapitel
fünf - Mogador, Mitte Mai 1836
„Allahu akbar! Aschhadu an la ilaha illa
llah!“
„Verdammtes Gejaule! Wird man davon denn nie
verschont?“ Benjamin fuhr in die Höhe. Genau neun Tage waren vergangen, seit
sie in Mogador angekommen waren, und er regte sich über jeden der fünfmal am
Tag ertönenden Gebetsrufe des Muezzins auf. Ganz besonders jedoch am frühen
Morgen.
Auch Sibylla war davon geweckt geworden. Doch
im Gegensatz zu Benjamin machte ihr das nichts aus.
„Zu Hause läuten die Kirchenglocken, hier
ruft der Muezzin die Menschen zum Gebet. Was spielt das schon für eine Rolle?“
Sie rekelte sich unter der Decke und stellte sich vor, wie draußen ein neuer,
wahrscheinlich wieder windiger, aber sonniger Tag heraufzog. Sehen konnte sie
das nicht, denn die Fenster ihres Riads waren klein und wiesen auf den
Innenhof. An den Abenden jedoch stand sie gern wie die Einheimischen auf dem
flachen Dach des Hauses und beobachtete, wie der orangerote Sonnenball am
westlichen Horizont versank. Eine lange Dämmerung, die den Tag allmählich
verblassen ließ, gab es hier nicht. Fast übergangslos brach die samtblaue Nacht
herein, und wenn erst der Mond aufging, schien er Sibylla viel näher als in
London, umgeben von hell funkelnden Sternen.
„Vor sechs Uhr morgens reißt dieses Gejaule,
das du hoffentlich nicht mit Glockenläuten vergleichen willst, harmlose
Menschen aus dem Schlaf! Eine grobe Unhöflichkeit ist das!“, erregte sich
Benjamin, während er eine Kerze anzündete, aus dem Bett kletterte und einen
Morgenrock über sein Nachthemd warf. Griesgrämig vor sich hin schimpfend,
verschwand er hinter einem Wandschirm, wo der Waschtisch stand. Er und Sibylla
benutzten den Schlafraum, den zuvor Mr. Fisher bewohnt hatte. Er war wie alle
Zimmer des Riads kleiner als in ihrem modernen Londoner Haus. Benjamin schlief
in Mr. Fishers Bett, für Sibylla hatten die Willshires einen Diwan organisiert,
den sie leidlich bequem fand. Außerdem gab es noch ein paar bunt bemalte Truhen
und Kommoden, die sich neben dem massiven englischen Eichenholzschrank aus dem
Nachlass Fishers sehr seltsam ausnahmen. Sibylla hatte Spiegel und
Familienporträts aufgehängt. Doch noch fühlte sie sich mit der
zusammengewürfelten Einrichtung nicht zu Hause.
Es klopfte, und die Haushälterin trat ein.
Sie trug ein Tablett mit dampfendem Tee, stellte es auf Sibyllas Nachtkonsole
und entzündete eine der Öllampen. Dass es hier kein Gaslicht gab wie in London,
war auch eines der Dinge, an die sie sich noch gewöhnen mussten. Besonders
Benjamin fiel es schwer, sich ohne den früheren Komfort einzuleben, und er
verbarg sein Heimweh hinter schlechter Laune.
„Guten Morgen“, grüßte die Haushälterin in
dem melodiösen Englisch, das Sibylla so gern hörte. Sie wusste inzwischen, dass
die Frau Nadira hieß. Wie jeden Tag trug sie ein Kleid aus bunt bedruckter
Baumwolle, eng um die ausladenden Hüften gewickelt, einen Turban, der ihr Haar
vollkommen verbarg, und schwere goldene Ohrringe, die
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