Die Loewin von Mogador
natürlich, zu lügen. Andererseits lockt der Überseehandel mit Schwarzen
immer noch mit exorbitanten Gewinnen. Das kann so manchen braven Mann dazu
verführen, sich über Verbote hinwegzusetzen.“
Sibylla stützte den Kopf in ihre Hände. Wer
war der wahre Schuldige? Der Kaufmann Toledano, Nathaniel Brown oder doch ihr
Mann? „Mr. Willshire. Was unternehmen wir, um meinem Gatten zu helfen?“
Er zögerte. „Wenn Sie es wünschen, werde ich
Generalkonsul Drummond-Hay in Tanger bitten, eine offizielle Protestnote an den
Sultan zu verfassen.“
Sibylla glaubte, sie hatte sich verhört. „Natürlich
tun Sie das, Konsul! Aber was unternehmen Sie darüber hinaus?“
Willshire wand sich. „Ich bedaure, Mrs.
Hopkins, aber wir wissen gegenwärtig nicht einmal, was wirklich passiert ist.
Schon der kleinste Hinweis auf eine Schuld Ihres Gatten kann schwere
diplomatische Verstimmungen zwischen Großbritannien und Marokko nach sich
ziehen.“
Er erhob sich, Sara stand ebenfalls auf.
„Vielleicht sollten Sie mit den Kindern nach England zurückkehren, Sibylla“,
überlegte diese. „In England weiß man noch nichts von dieser schrecklichen
Sache, und von uns soll auch niemand etwas erfahren. Aber hier in Mogador wird
das Vergehen Ihres Mannes auf alle Europäer zurückfallen.“
Sibylla starrte sie an, schockiert, weil
Benjamin offensichtlich schon abgeurteilt worden war. Konsul Willshire reichte
ihr die Hand, und sie ergriff sie mechanisch. „Auf Wiedersehen, Mrs. Hopkins.
Es tut mir sehr leid für Sie.“
„Es tut Ihnen leid?“, erwiderte Sibylla
tonlos. „Wir sind englische Staatsbürger. Es ist Ihre Aufgabe, uns in diesem
Land zur Seite zu stehen!“
Er blickte sie an und konnte sein Unbehagen
nicht verbergen. „Der Kaid wollte Ihren Gatten in den Kerker werfen lassen.
Allein auf mein Drängen ist er nun in einem bewachten Zimmer untergebracht.
Morgen in aller Früh wird er in die Bastion der Insel Mogador verlegt. Wenn Sie
Ihren Gatten noch einmal sehen wollen, ist das die letzte Gelegenheit. Mehr
kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht für Sie tun. Es tut mir leid.“
Der Morgen dämmerte gerade erst, als Sibylla
nach einer schlaflosen Nacht zum Hafen eilte. Dunst hing über dem Meer,
staubfeiner Regen wehte ihr ins Gesicht. Sie hatte sich in ein wollenes Tuch
gewickelt. Trotzdem fror sie zum ersten Mal, seit sie in Marokko lebte. Mit
gesenktem Kopf eilte sie durch die leeren Gassen und das Bab El Mersa Tor, das
die Wachen gerade erst geöffnet hatten, zum Hafen. Nebelfetzen hingen über dem
Wasser. Sie erkannte schemenhaft die Masten einiger Segelschiffe, die im
hinteren Teil des Hafens ankerten, und weiter draußen auf dem Meer die
verschwommenen Lichter der Fischerboote.
Etwas abseits lag ein einzelnes Ruderboot.
Der Kapitän stand am Kiel und blickte in Richtung Stadttor, die Ruderer hatten
ihre Plätze eingenommen. Offensichtlich sollte dieses Boot Benjamin auf die
Insel bringen. Sibylla setzte sich auf die Kaimauer. Es war Flut, und das
Wasser im Hafen stand hoch. Unter ihr schlugen die Wellen leise klatschend
gegen den Kai. Über ihr segelten Möwen im Wind und stießen heisere Schreie aus.
Mit Tränen in den Augen blickte sie zur Hafenausfahrt. Dort lag, ungefähr eine
Meile entfernt, ein zerklüftetes kleines Eiland, von dem ein paar Türme und
Festungsmauern emporragten – die Insel Mogador.
Der Klang rhythmischer Stiefeltritte
zerschnitt die morgendliche Ruhe. Sibylla wandte sich um und sah fünf Männer
durch das Stadttor kommen. An der Spitze ging ein Hauptmann der Schwarzen
Garde, hinter ihm Benjamin. Er wurde rechts und links von Soldaten flankiert.
Dann folgte noch ein Soldat. Sibylla sprang auf und rannte auf die kleine
Gruppe zu. Sofort zog der Hauptmann seinen Säbel. „Zurück, Mrs. Hopkins!“
Gehorsam hielt sie Abstand, aber sie lief
neben den Männern her. Benjamin wirkte zerzaust und übernächtigt. Sein Gehrock
war zerdrückt, die Hose fleckig. Erschrocken bemerkte sie, dass seine
Handgelenke zusammengekettet waren.
„Benjamin!“, rief Sibylla. „Geht es dir gut?
Was ist los? Warum haben sie dich festgenommen?“ Sie hatte so viele Fragen, sie
wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte.
Er wandte den Kopf, seine Augen waren
gerötet. „Hat Willshire dir das nicht erzählt?“
„Doch, aber ich kann nicht glauben, dass es
wahr ist.“
„Du musst mir helfen!“, stieß Benjamin
hervor. „Geh zu Toledano, und sag ihm, dass er seine Aussage widerrufen muss!“
Die
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