Die Loge
Eminenz.«
»Guten Abend, Euer Eminenz«, echote der Kardinal unwillkürlich.
Sein Doppelgänger nickte knapp, dann stieg er in Brindisis Dienstwagen, der rasch mit ihm davonfuhr. Pater Mascone, der Privatsekretär des Kardinals, wartete hinten im Lieferwagen. »Bitte beeilt Euch, Euer Eminenz. Hier dürfen wir nicht lange bleiben.«
Der Geistliche half dem Kardinal in den Laderaum, schloß die Hecktür von innen und schob Brindisi einen Hocker mit besticktem Bezug hin. Der Lieferwagen fuhr rasch die Rampe hinauf und bog auf die Straße ab. Im nächsten Augenblick war er quer durch Rom in Richtung Tiber unterwegs.
Pater Mascone zog den Reißverschluß einer Reisetasche auf und nahm mehrere Kleidungsstücke heraus: eine graue Flanellhose, einen schwarzen Rollkragenpullover, ein teures beiges Sportsakko, elegante schwarze Slipper. Kardinal Brindisi knöpfte seine Soutane auf und begann sich zu entkleiden. Wenig später war er nackt bis auf die Unterhose und sein cilicio – eine mit kleinen Stacheln besetzte Kette, die er als Büßer um den rechten Oberschenkel gewunden trug.
»Vielleicht solltet Ihr den cilicio abnehmen«, schlug Pater Mascone vor. »Es könnte sich unter der Hose abzeichnen.«
Brindisi schüttelte den Kopf. »Meine Bereitschaft, mich zu entkleiden, hat ihre Grenzen, Pater Mascone. Ich trage den cilicio weiter, auch wenn er sich vielleicht …«, er machte eine Pause, »… unter der Hose abzeichnet.«
»Sehr wohl, Euer Eminenz.«
Mit Hilfe seines Privatsekretärs legte der Kardinal rasch die ungewohnten Kleidungsstücke an. Als er fertig angezogen war, nahm er seine charakteristische Brille ab und ersetzte sie durch eine andere mit leicht getönten Gläsern. Damit war die Verwandlung komplett. Er sah nicht mehr wie ein Kirchenfürst, sondern wie ein reicher, nicht sonderlich gut beleumundeter Römer aus – eher wie einer, der sich gern mit jüngeren Frauen umgibt.
Fünf Minuten später hielt der Lieferwagen jenseits des Tibers auf einem unbelebten Platz. Der Geistliche öffnete die Hecktür. Kardinalstaatssekretär Marco Brindisi bekreuzigte sich und stieg aus.
Rom gleicht in vieler Hinsicht einer Kleinstadt, deren größter Arbeitgeber die Kirche ist. Unter normalen Umständen hätte Marco Brindisi nicht die Via Veneto hinunterschlendern können, ohne erkannt zu werden – selbst in der schlichten schwarzen Soutane eines Gemeindepfarrers nicht. An diesem Abend bewegte er sich jedoch unbeachtet und schlängelte sich durch die schwatzende Menge und an übervollen Cafés vorbei, als sei er ein belibiger Römer auf der Suche nach einer guten Mahlzeit und angenehmer Gesellschaft.
Die glorreiche Zeit der Via Veneto war längst verblaßt. Sie blieb ein schöner Boulevard, der mit Platanen, exklusiven Geschäften und teuren Restaurants gesäumt war, aber die Filmstars und Intellektuellen waren auf der Suche nach neu zu entdeckenden Genüssen längst weitergezogen. Jetzt bestand das Publikum hauptsächlich aus Touristen, Geschäftsleuten und hübschen italienischen Teenagern, die auf Motorrollern herumrasten.
Marco Brindisi hatte sich nie zum Dolce vita auf der Via Veneto hingezogen gefühlt, nicht einmal in den sechziger Jahren, als er als junger Kurienbürokrat gerade erst aus einer Kleinstadt in den Hügeln Umbriens nach Rom gekommen war; und es erschien ihm jetzt noch weniger verlockend. Die Gesprächsfetzen, die er unterwegs aufschnappte, klangen unsäglich trivial. Er wußte, daß manche Kardinäle – tatsächlich sogar manche Päpste – gern in Zivil durch Rom streiften, um zu sehen, wie die andere Hälfte lebte. Brindisi hatte diesen Wunsch nicht. Bis auf wenige Ausnahmen hielt er die andere Hälfte für einen sittenlosen, ungehobelten Pöbel, dem es besser angestanden hätte, mehr auf die Lehren der heiligen Kirche und weniger auf seinen unablässig plärrenden Fernseher zu hören.
Eine attraktive Vierzigerin, die in einem tief ausgeschnittenen Kleid in einem Straßencafé saß, warf ihm einen bewundernden Blick zu. Brindisi, der seine Rolle spielen mußte, erwiderte ihr Lächeln. Als er weiterging, flehte er Jesus um Vergebung an und verstärkte den Druck auf seine Büßerkette, um den Schmerz zu steigern. Er hatte schon mehrmals Geistlichen, die sexuellen Versuchungen erlegen waren, die Beichte abgenommen. Priestern, die sich eine Geliebte hielten. Priestern, die mit anderen Priestern unsägliche Dinge taten. Solche Versuchungen hatte Brindisi nie gekannt. Seit dem Augenblick, in
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