Die Luft, die du atmest
wusste nicht, was sie jetzt waren. Und wusste es doch ganz genau. Libby war so krank gewesen, dass sie alles riskieren musste. Sie war so krank gewesen, dass sie ihr Kind eingepackt und vor ihrer Tür abgelegt hatte, auf die Gefahr hin, dass es erfror. So krank, dass sie es ausgesetzt hatte. Das hatte sie nicht im Fieberwahn getan. Nein, Libby hatte gewusst, was passieren würde, und entsprechend gehandelt. Ann atmete tief durch. Es gab Überlebende. Die Hälfte der Erkrankten kam durch.
«Sie hat mich um etwas gebeten, das ich nicht tun konnte, Kate. Ich hätte es gern getan, aber ich konnte es einfach nicht.» Wie konnte sie Kate nur erklären, dass die Dinge nicht immer nur schwarz und weiß waren, sondern dass es dazwischen unendlichviele Grautöne gab? Kate war dreizehn, an der schwierigen Scheide zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Dreizehnjährige sahen die Welt glasklar. Menschen waren gut oder gemein oder doof. Die Dinge waren entweder richtig oder falsch. Dazwischen gab es nichts.
«Dad hat es getan, obwohl sie gar nicht seine Freundin war. Sie mochte ihn nicht mal.»
Ann hörte die Verwirrung in Kates Stimme. Zorn stieg in ihr auf. Peter hatte sich einfach über sie hinweggesetzt und das Baby hereingeholt. «Ich weiß.»
Kate drehte ihre Schuhspitze im Schneematsch.
« Ich
würde meinen Freunden helfen.» Ihre Worte waren von einer kleinen weißen Atemwolke begleitet.
«Das weiß ich.»
«Michele hat gar nicht mehr angerufen.»
Kate hatte vor Wochen zuletzt mit ihrer Freundin geredet. «Sie müssen weggefahren sein.»
«Das sagst du immer.»
Vielleicht hatte Kate recht. Aber es war so viel schrecklicher, sich die Alternative auszumalen. Es war so viel besser, ihr eine Hoffnung anzubieten als die bloße Verzweiflung.
«Sie hätte mir das gesagt», fuhr Kate fort. «Sie hätte einen Zettel in den Briefkasten gelegt oder sonst was.»
Deshalb war Kate also ständig zum Briefkasten gelaufen. Ann hatte geglaubt, es wäre schlicht die Sehnsucht nach Kontakt mit der Außenwelt, dabei hatte sie nur auf eine einzige Nachricht gewartet. Von Michele.
Kate sagte: «Sie mochte die Rutsche auch nicht.»
Ann musste lächeln, als sie an die beiden kleinen Mädchen oben an der geschwungenen gelben Rutsche dachte, die sich zankten, wer von ihnen als Erste rutschen musste. «Aber sie war trotzdem dauernd wieder oben.»
«Sie war meine beste Freundin.»
«Wir wissen nicht, was mit ihr ist, Kate. Michele könnte absolut gesund sein.»
«Keiner ist mehr da.» Kate legte den Kopf an die Schaukelkette. «Ich hab hier gewartet, aber keiner ist gekommen.»
«Deine Freunde haben sich hier getroffen?»
Kate sah sie von der Seite an. «Ein paar.»
Ann umklammerte die Ketten fester. Ihre Tochter hatte sich in Gefahr begeben. Sie hätte auf die anderen treffen können. «Wir fahren bei Michele vorbei. Und wenn wir da sind, hupen wir, um zu sehen, ob jemand ans Fenster kommt.»
«Und wenn keiner kommt?»
«Dann fahren wir zu Scooter und zu Claire.»
Kate schüttelte den Kopf. «Hör auf, Mom.» Sie klang müde. «Du kannst nicht alles wiedergutmachen.»
Nein, Ann konnte wahrhaftig nicht alles wiedergutmachen. Manches hatte sie einfach nicht in der Hand. Manches war einfach für immer vorbei.
«Hör zu.» Ann drehte ihre Schaukel so, dass sie Kate direkt ansah. Ihre Knie stießen sachte aneinander. «Das darfst du nie wieder machen.» Sie fasste Kate unters Kinn und zwang ihre Tochter, ihr in die Augen zu sehen. «Verstanden?»
Nach kurzem Zögern sagte Kate: «Ja.»
Sie würde es nicht überleben, ein Kind zu verlieren. Nicht noch einmal.
NEUNUNDZWANZIG
Peter schraubte ein Gläschen Babynahrung auf. Jacob saß auf Shazias Schoß und beobachtete jede seiner Bewegungen. Vor dem Kamin kniete Ann und hielt einen Topf über die Flammen. Sie hockte so weit von ihm und Shazia entfernt wie irgend möglich.
Peter tauchte den Löffel ein und angelte nach den pürierten Möhren.
Shazia schaukelte den Kleinen auf dem Schoß. «Auf machen », befahl sie. «Ham, ham.»
Gehorsam nahm Jacob den Löffel in den Mund und schluckte. Brei lief ihm übers Kinn.
«Hast du draußen jemanden gesehen, Peter?», fragte Shazia, während sie Jacob das Gesicht abwischte.
«Ein kleines Mädchen.»
«Und?» Ann richtete sich ein wenig auf. Ihre Wangen waren vom Feuer gerötet.
«Ihre Mutter ist gekommen und hat sie geholt. Ich war noch fast fünf Meter von ihr entfernt.» Anns ständige Wachsamkeit machte ihm zu schaffen.
Jacob
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