Die Luft, die du atmest
Mutter nie um diese Zeit an. Vielleicht war etwas passiert. Ann lief rasch in die Küche. Dort ging Maddie mit dem schnurlosen Telefon ab und ab, während Kate über einem aufgeschlagenen Schulbuch am Tisch saß.
«Es hat richtig gebrannt», sagte Maddie gerade. «Mom hat Heyjin das Leben gerettet.» Pause. «Heyjin ist eine Neue in unserer Klasse. Aus Korea.» Sie lauschte. «Nein, aber eine der Pinnwände im Naturkunderaum ist geschmolzen.»
Ann streckte die Hand aus.
Maddie sagte: «Mom will dich sprechen. Ich hab dich lieb, Grandma. Bis bald.»
Ann nahm das Telefon. «Mom? Ist was mit Dad?»
«Nein, es geht ihm gut. Na ja, gestern hatte er Schwierigkeiten beim Atmen, aber der Arzt meinte, damit war zu rechnen. Er hat uns gleich drangenommen. Nett von ihm, oder?»
Wie immer faselte ihre Mutter vor sich hin, um niemanden zu beunruhigen.
Maddie setzte sich Kate gegenüber an den Küchentisch und griff nach ihrem Bleistift.
«Ja, das ist wirklich nett», sagte Ann. «Dann ist also alles in Ordnung?»
«Ja doch. Aber es klingt, als hättet ihr heute einiges mitgemacht.»
«Es hat nur eine Stunde gedauert. Dann war alles überstanden.»
«Maddie sagt, du hast ein Kind gerettet?»
«Ja.» Ann bemerkte, dass Maddie aufmerksam lauschte, mit zur Seite geneigtem Kopf und reglosem Bleistift. Sie ging nach draußen und schob die Glastür hinter sich zu. Die Fliesen unter ihren bloßen Füßen waren kalt. Die Aluminiumstühle standen noch um den Gartentisch. Die würde sie dieses Jahr alleine wegräumen müssen. Sie zog einen heran, setzte sich, legte die Post auf den Tisch und schlug die Beine unter, um ihre Füße zu wärmen. «Ein kleines Mädchen aus Korea. Sie hat eine Heidenangst davor, sich im Freien aufzuhalten. Sie befürchtet, sie könnte die Vogelgrippe bekommen wie ihr Vater.»
«Vogelgrippe! Hier?»
«Nein, nein. In Korea.»
«Ach, das arme kleine Ding. In Asien ist es schlimmer geworden, weißt du. Hat Peter was erzählt?»
«Mir nicht. Wir haben seit Wochen nichts mehr voneinander gehört.»
«Ich dachte, er hätte samstags immer die Mädchen?»
Das war eine formlose Abmachung. «Das hat die letzten Male nicht geklappt.»
«Wieso nicht? Die Mädchen müssen doch Zeit mit ihrem Vater verbringen.»
«Ich weiß, Mom. Natürlich sollten sie das. Aber in dieser Jahreszeit hat er immer so viel zu tun. Und die Mädchen haben auch ständig etwas vor. Maddie war zu einem Geburtstag eingeladen. Kate hatte ein Tennisturnier.»
«Hätte er da nicht mit hingehen können?»
«Das wollte Kate nicht.» Ann sah, wie Kate sich zurücklehnte und ihren iPod einstöpselte. «Sie macht harte Zeiten durch, Mom.»
«Ich weiß, und die Trennung von Peter macht es nicht leichter.» Anns Mutter seufzte. «Sie war immer sein kleines Mädchen.»
Ann sah blinzelnd zur Birke hinten im Garten. «Sag mir, dass sie es schaffen wird.»
«Aber natürlich wird sie’s schaffen. Sie ist ein so vernünftiges Mädchen. Das wird ihr helfen, mit ihren Problemen fertig zu werden. Und außerdem hat sie dich.» Ihre Mutter lachte leise. «Sie erinnert mich sehr an dich.»
«Kann sein, aber das solltest du ihr auf gar keinen Fall sagen.» Ann zog die Post zu sich heran und fischte den Umschlag von der Anwältin aus dem Haufen. Sie riss ihn mit dem Zeigefinger auf und nahm den dicken Blätterstapel heraus. Schweres Papier, eng mit kleiner Schrift bedruckt.
«Bestimmt leidet Peter auch furchtbar», sagte ihre Mutter. «Glaubst du nicht, er könnte vielleicht …?»
Ann starrte auf den Blätterstapel. «Nein, ich glaube nicht, dass er seine Meinung geändert hat.»
«Ich verstehe das einfach nicht. Ich weiß, dass er dich und eure Töchter liebt.»
Sein Versprechen, sie für immer zu lieben, hatte dann doch nicht ganz so lange gehalten. «Er liebt die Mädchen, aber … zwischen uns ist es aus.»
Am anderen Ende war es erneut still, diesmal länger. «Viel leicht könntest du –»
Sie wollte sich nicht schon wieder anhören, dass sie zur Beratung gehen sollte. «Ich muss Schluss machen, Mom. Das Abendessen wartet. Grüß Dad von mir.»
«Gut, Schatz. Ich richte es aus. Ich rufe morgen wieder an.»
«Gut. Ich hab euch lieb.»
Ann legte das Telefon auf den Tisch und blätterte die Papiere durch. An den Rändern steckten pinkfarbene Post-its wie kleine Fähnchen. HIER UNTERSCHREIBEN. HIER ABZEICHNEN. Der Beweis, wie ernst es Peter war.
Für ihn ging das Leben ohne William weiter. Nur sie war noch immer in jenem
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