Die Luft, die uns traegt
Glas erheben und in die Fröhlichkeit einstimmen.
Lou war bester Laune, und Cora reichte glücklich Fotos ihres ersten Enkelkindes herum, inzwischen einen Monat alt. Und dann war da noch Scarlet, die sie alle lächelnd beobachtete,
das Haar kurz geschnitten, in Jeans und T-Shirt, frisch aus ihrem einfachen Leben in ihrem einfachen Zimmer in Massachusetts angereist (einem zölibatären Leben, hatte sie Addie mit einem eigenartigen Stolz erzählt). Selbst jetzt in dieser Runde dachte Scarlet über ein Gedicht nach, dessen war Addie sich sicher. Sie erkannte diesen fernen, heiteren Gesichtsausdruck und die Art und Weise, wie ihre Tochter mit den Fingern einen Rhythmus auf dem Knie klopfte.
Selbst Tom lächelte fröhlich, obwohl er in diesem kostbar eingerichteten Zimmer saß, das er nicht ausstehen konnte, und aus Lous teurem Kristall Champagner trank, den er ebenfalls nicht ausstehen konnte.
Und sie, Addie Sturmer Kavanagh, war am Leben und, im Augenblick zumindest, gesund. Sie nahm Toms Hand und drückte sie. Weder in diesem Moment noch später erzählte sie ihm, dass sie auf dieser und zahllosen anderen Feierlichkeiten und Empfängen und Ehrungen in den folgenden Jahren nur seinetwegen geblieben war.
Siebzehn
Im Sommer nach ihrem zweitem Jahr am Bates College arbeitete Scarlet als Kellnerin im Restaurant eines alten Gasthofs in ’Sconset, an der Ostküste von Nantucket. ’Sconset war ein wunderhübsches Städtchen. Um beinahe jeden der zauberhaft verwitterten Zäune blühten Heckenrosen, und an den schönen Stränden sonnten sich hauptsächlich Sommergäste, deren Familien zum Teil schon seit Generationen ihren Urlaub auf Nantucket verbrachten.
Andere Familien – wie die ihres Freundes Nate – reichten sogar noch weiter zurück, bis zu den ersten englischen Bewohnern der Insel, Walfängern aus Nantucket Town. Nate hatte Scarlet den Job im Gasthof besorgt. Der Eigentümer war ein Freund seines Vaters.
Jede Sekunde, die sie nicht arbeitete (und davon gab es nur sehr wenige, je weiter der Sommer voranschritt; Anfang August hatten die meisten ihrer gleichaltrigen Kellnerkollegen und -kolleginnen bereits ihre Jobs an den Nagel gehängt, um fröhlich das bis dahin verdiente Geld in den Kneipen und am Strand von Martha’s Vineyard oder Cape Cod zu verprassen), verbrachte Scarlet mit Nate beim Segeln. So, dachte sie zu der Zeit, sähe ihre Zukunft aus: den Sommer segelnd mit ihrem gutaussehenden, sonnengebräunten Mann auf seinem Familienanwesen
am Rande von ’Sconset verbringen, den Winter mit ihrem Mann, dem erfolgreichen Anwalt (soweit Nates Plan, falls es ihm gelänge, seine Noten zu verbessern), in Boston oder New York.
Was machte es schon, dass Scarlet in jenem Sommer, während Nate mit seinen Freunden durch die Bars zog, zwei Schichten pro Tag im Gasthof arbeitete, unzählige Teller mit kunstvoll angerichtetem Schwertfisch und Jakobsmuscheln servierte, Flasche um Flasche Chardonnay öffnete. Und dass sie auch nicht auf dem Familienanwesen wohnte – seinen Eltern wäre das nicht so recht, hatte Nate entschuldigend gesagt – , sondern in einem von T-Shirts und Unterwäsche übersäten Raum über der Küche des Gasthofs, den sie sich mit zwei anderen Sommeraushilfen teilte, die sie kaum je zu Gesicht bekam und deren Namen sie am Ende des Sommers schon wieder vergessen hatte.
Dennoch hielt Scarlet den gesamten Juni, Juli und August an diesem Glauben fest: Sie würde heiraten, und wenn nicht Nate, dann jemanden wie ihn. Und später würden sie und dieser Ehemann mit ihren beiden perfekten Kindern in einem großen, blitzsauberen Haus in einem alten, geschmackvollen und betuchten Vorort mit guten Schulen leben. Sie hätten einen Fernseher, zwei hübsche, neue und rostfreie Autos und einen großen, ordentlichen Garten, in dem weit und breit kein Vogelkadaver zu entdecken war. Endlich wäre sie normal. Die Ehe würde ihr das schenken, endlich.
Diese Vision überdauerte nicht nur eines, sondern zwei Frauenforschungsseminare, in denen Scarlet recht gut abschnitt. Was nicht bedeuten sollte, dass irgendetwas von dem, was in diesen Kursen gelesen, gesagt oder geschrieben wurde, tatsächlich bei ihr ankam. Dann hatte sie eben jedes Recht, genauso viel oder auch mehr als ihre männlichen Kommilitonen
in Bates zu verdienen. Na und?, dachte sie. Damals wusste sie schon, dass sie Gedichte schreiben wollte – ein Beruf, in dem sie bettelarm bleiben würde, ob nun Mann oder Frau. Die Ehe schien ihr der einzig gangbare
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