Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
einer Stunde auf dem Gleis in Toulouse gesehen haben.
»Ich suche ja auch was Spezielles«, sagte sie.
»Das kann man wohl sagen. Selbstgerechte Pseudo-Wölfe – ich habe überhaupt keine Vorstellung, was das sein könnte.«
Der Barkeeper sah ihn ungeduldig an. »Was nehmen Sie?«
»Kakao, bitte«, sagte der Fremde.
Scarlet kicherte, als der Barkeeper ungerührt ein Glas herunternahm. »Das hätte ich ungefähr als Letztes von Ihnen erwartet.«
»Ach ja? Was hätte ich denn sonst bestellen sollen?«
Sie musterte ihn. Er konnte nicht viel älter sein als sie, und wenn er auch nicht wirklich gut aussah, hatte er mit dem Selbstbewusstsein bestimmt keine Probleme bei Frauen. Er war massig, aber muskulös, die Haare trug er ordentlich zurückgekämmt. Er wirkte hellwach, zu allem entschlossen und reichlich arrogant. »Cognac«, sagte sie. »Das hat mein Vater immer bestellt.«
»Tut mir leid, habe ich noch nie probiert.« Das Grübchen vertiefte sich, als der Barkeeper ein großes Glas aufgeschäumten Kakao vor ihn stellte.
Scarlet schaltete den Port aus und hob die Espressotasse. Plötzlich kam ihr der Geruch stark und bitter vor. »Sieht lecker aus.«
»Erstaunlich proteinreich«, sagte er und nahm einen Schluck.
Scarlet trank etwas Espresso, aber er schmeckte ihr einfach nicht mehr. Sie setzte die Tasse ab. »Wenn Sie ein Gentleman wären, hätten Sie mich schon gefragt, ob ich nicht vielleicht auch lieber eine heiße Schokolade trinken möchte.«
»Wenn Sie eine Lady wären, hätten Sie darauf gewartet, dass ich Ihnen die Frage stelle.«
Scarlet grinste. Ihr Nachbar winkte den Barkeeper heran und bestellte den Kakao.
»Übrigens, ich bin Ran.«
»Scarlet.«
»Scarlet? Wie Scharlachrot? Wie Ihre Haare?«
»Mann, das ist mir ja noch nie aufgefallen!«
Der Barkeeper stellte das Getränk vor sie hin, wandte sich ab und drehte den Ton des Netscreens lauter.
»Und wohin reisen Mademoiselle Scarlet?«
Paris.
Das Wort hallte ihr durch den Kopf. Auf dem Bildschirm sah sie nach der Uhrzeit, kalkulierte die Entfernung und die Reisedauer.
»Paris«, sagte sie und nahm einen großen Schluck. Es war keine frische Milch wie die, die sie sonst trank, aber das cremige süße Getränk war ein seltener Genuss. »Ich besuche meine Großmutter.«
»Wirklich? Ich fahre auch nach Paris.«
Scarlet nickte zerstreut. Sie wollte sich nicht mehr mit ihm unterhalten. Als sie wieder von der süßen Trinkschokolade kostete, kam ihr in den Sinn, dass sie ihn manipuliert hatte, und wenn es auch unbewusst gewesen sein mochte. Dieser Mann interessierte sie überhaupt nicht; was er in Paris wollte oder ob sie ihn je wiedersehen würde, war ihr vollkommen einerlei. Sie hatte sich nur beweisen wollen, dass sie sein Interesse wecken konnte, und jetzt ärgerte sie sich, dass es so leicht gewesen war.
Das war typisch für ihren Vater, und als ihr das bewusst wurde, drehte sich ihr der Magen um. Am liebsten hätte sie den Kakao zurückgegeben.
»Reisen Sie alleine?«
Sie sah ihn entschuldigend an. »Nein. Und ich muss jetzt auch wirklich wieder zu ihm zurückgehen.« Sie betonte zu ihm mehr, als notwendig gewesen wäre, aber er ließ sich nichts anmerken.
»Verstehe«, sagte er.
In der Sekunde, in der sie den letzten Schluck getrunken hatte, zog sie ihr Handgelenk über den Scanner an der Bar, bevor der Fremde protestieren oder für sie bezahlen konnte.
»Barkeeper«, sagte sie schon vom Hocker gleitend, »haben Sie etwas zum Mitnehmen? Baguettes oder so etwas?«
Der Barkeeper drückte seinen Daumen auf den Schirm, der in den Tresen eingelassen war. »Nur warme Mahlzeiten.«
Scarlet runzelte die Stirn. »Dann bestelle ich was vom Abteil aus.«
Der Barkeeper ließ sich nicht anmerken, ob er das gehört hatte.
»War nett, Sie kennenzulernen, Ran.«
Er lehnte sich lässig gegen die Theke und drehte den Barhocker zu ihr herum. »Vielleicht kreuzen sich unsere Pfade ja irgendwann in Paris.«
Ihr stellten sich die Nackenhaare auf, als er das Kinn in die Hand stützte. Angeekelt bemerkte sie, dass seine Nägel scharf und spitz nach oben zuliefen.
»Vielleicht«, sagte sie mit kalter Höflichkeit.
Auf dem Weg zurück durch den Gang verstärkte sich das instinktive Gefühl der Bedrohung. Wahrscheinlich spielten ihre Nerven einfach nur verrückt oder sie wurde sie langsam paranoid, nach all dem, was mit Michelle und ihrem Vater passiert war. Es war eher erstaunlich, dass es ihr überhaupt noch gelang, sich zu unterhalten. Die
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