Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Freudentanz aufführen müssen, weil sie endlich Königin war, findest du nicht? Als hätte sie gewusst, dass ihr die Prinzessin entkommen war.«
»Ach ja, diese alte Geschichte«, sagte Cinder, auch wenn sie nicht wusste, warum sie ihn von seinem Glauben abbringen wollte. Vielleicht weil sie selbst nie daran geglaubt hatte, bis sie die Wahrheit erfahren hatte.
Er zuckte die Achseln. »Und was hat das mit Europa zu tun?«
Cinder setzte sich in den Schneidersitz und sah ihn direkt an. »Dort lebt eine Frau – oder jedenfalls lebte sie früher dort –, die mal beim Militär war. Sie heißt Michelle Benoit, und ich glaube, sie steht in irgendeinem Verhältnis zu der vermissten Prinzessin.« Sie holte tief Luft und hoffte, dass sie nichts Verräterisches gesagt hatte.
»Woher weißt du das?«
»Von einer Androidin … einer königlichen Androidin.«
»Oh! Kais Androidin?«, fragte Iko aufgeregt und rief gleich eine von Kais Fanseiten auf.
Cinder seufzte. »Ja, die Androidin Seiner Majestät.«
Auch wenn sie es damals nicht bemerkt hatte, hatte ihr Cyborg-Gehirn jedes Wort der Androidin, Nainsi, aufgezeichnet, als habe es gewusst, dass Cinder eines Tages auf diese Informationen angewiesen sein würde.
Nainsi hatte herausgefunden, dass Cinder als Kind von dem lunarischen Arzt Logan Tanner auf die Erde gebracht worden war, nachdem der Mordanschlag Levanas gescheitert war. Logan war irgendwann in die Psychiatrie eingeliefert worden und hatte Selbstmord begangen, doch zuvor hatte er Cinder jemand anderem anvertraut. Nach Nainsis Recherchen handelte es sich bei dieser Person um eine ehemalige Militärpilotin der Europäischen Föderation.
Oberstleutnant Michelle Benoit.
»Eine königliche Androidin«, sagte Thorne und zeigte sich das allererste Mal von seiner nachdenklichen Seite. »Und wie ist sie an diese Informationen gelangt?«
»Keine Ahnung. Aber ich muss diese Michelle Benoit finden.«
Hoffentlich konnte ihr Michelle Benoit die Antworten geben, die Dr. Erland ihr schuldig geblieben war. Vielleicht konnte sie Cinder etwas über ihre Vergangenheit erzählen, über die elf Jahre, die in ihrem Gedächtnis komplett fehlten, über die Operationen, die Chirurgen und darüber, wie Linh Garan Cinders lunarische Gabe blockiert hatte. Erst Dr. Erland hatte sie wieder freigesetzt.
Vielleicht hatte Michelle Benoit auch eine Vorstellung davon, was Cinder als Nächstes tun sollte. Etwas, das sie nicht für den Rest ihres Lebens in ein Korsett presste.
»Ich bin dabei.«
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. »Wirklich?«
»Klar. Das ist das größte ungelöste Rätsel des Dritten Zeitalters. Außerdem hat bestimmt jemand eine Belohnung auf die Prinzessin ausgesetzt.«
»Ich kann dir auch sagen, wer: Königin Levana.«
Thorne stieß sie mit dem Ellenbogen an. »Also verbindet uns schon mal etwas mit der Prinzessin.« Sein Gezwinker ging Cinder allmählich auf die Nerven. »Hoffentlich ist sie wenigstens hübsch.«
»Kannst du dich mal fünf Minuten auf das konzentrieren, was wichtig ist?«
»Das ist doch wichtig.« Thorne stand ächzend auf, seine Muskeln taten ihm nach dem Aufräumen weh. »Hast du Hunger? Ich glaube, irgendwo steht noch eine Dose Bohnen herum, die nach mir ruft.«
»Nein, danke.«
Als er gegangen war, setzte Cinder sich auf eine Kiste und ließ die Schultern kreisen. Über den Bildschirm liefen noch dieselben Nachrichten. Auf dem Ticker darunter las sie: »Suche nach geflohener Linh Cinder aus Luna und Hochverräter Dmitri Erland fortgesetzt.«
Sie hatte einen Kloß in der Kehle. Dr. Erland – ein Hochverräter?
Eigentlich war das nicht überraschend. Was hatte sie denn geglaubt, wie lange sie brauchen würden, um herauszufinden, wer ihr zur Flucht verholfen hatte?
Cinder ließ die Beine von der Kiste baumeln und starrte auf das Gewirr von Rohren und Kabeln unter der Decke. War es ein Fehler, nach Europa zu fliegen? Aber sie konnte einfach nicht widerstehen. Beides – Nainsis Worte und ihre eigenen verworrenen Erinnerungen – zog sie nach Frankreich. Sie hatte immer gewusst, dass sie in Europa adoptiert worden war, und sie erinnerte sich vage daran, wie an einen Traum. Eine Scheune. Ein schneebedecktes Feld. Ein grauer Himmel, der sich bis zum Horizont erstreckte. Und dann eine unendlich lange Zugfahrt zu ihrer neuen Familie nach Neu-Peking.
Es war fast wie eine Verpflichtung: herauszufinden, wo sie während all dieser Jahre gelebt und wer sich um sie gekümmert hatte –
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