Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
es da noch etwas anderes? Noch ein größeres Geheimnis, das sie vor ihr verborgen hatte?
Sie fragte sich verzweifelt, was sie noch alles nicht wusste.
Plötzlich wandte Wolf den Kopf aufmerksam Richtung Süden.
Augenblicklich hörte Scarlet auf zu grübeln. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, neben dem friedlichen Zirpen der Grillen hörte sie nur eine Brise durch die Baumwipfel streichen.
»Da kommt ein Zug«, flüsterte Wolf. Er fixierte sie besorgt. Ganz offensichtlich glaubte er, zu viel gesagt zu haben. Aber jetzt wollte sie alles wissen.
Sie nickte und stand auf. »Und diese Leute glauben, meine Großmutter wüsste irgendwas über die Prinzessin, weil …«
Wolf spähte vom Rand des Felsvorsprungs auf die Zugtrasse hinunter. »Sie glauben, dass Dr. Tanner Michelle um Hilfe gebeten hat, als die Prinzessin auf der Erde angekommen ist.«
»Sie glauben es, aber sie wissen es nicht genau.«
»Vielleicht nicht. Jedenfalls haben sie Michelle aus diesem Grund verschleppt«, sagte er und verlagerte sein Gewicht noch einmal prüfend auf den Baumstamm. »Um herauszufinden, was sie weiß.«
»Und haben sie auch mal daran gedacht, dass sie vielleicht gar nichts weiß?«
»Nein, sie sind überzeugt, dass sie etwas weiß. Jedenfalls war das so, als ich sie verlassen habe, wer weiß, was sie inzwischen herausbekommen haben …«
»Und warum suchen wir diesen Dr. Tanner dann nicht und fragen ihn?«
Wolf biss die Zähne zusammen. »Weil er tot ist.« Er hob die Tasche vom Boden. »Er hat sich Anfang des Jahres umgebracht. In einer Nervenheilanstalt im Asiatischen Staatenbund.«
Ein Teil ihres Ärgers verpuffte. Ihr tat dieser Mann leid, von dessen Existenz sie bis vor wenigen Minuten noch gar nichts geahnt hatte. »In einer Nervenheilanstalt?«
»Er hat sich dort selbst eingeliefert.«
»Aber wieso? Er war doch Lunarier. Warum hat man ihn nicht inhaftiert und nach Luna zurückgeschickt?«
»Er muss herausgefunden haben, wie man sich auf der Erde tarnen kann.«
Wolf gab ihr die Hand, die sie instinktiv ergriff. Doch als er seine warmen Finger um ihre schloss, zuckte sie zurück. Einen Augenblick später lockerte er seinen Griff und balancierte auf dem Baumstamm.
Scarlet lenkte den Lichtkegel des Portscreens auf den schwankenden Steg und bemühte sich, ihren Gedankenfaden wiederzufinden. »Er muss noch mit jemand anderem auf der Erde Kontakt gehabt haben. Die Spur kann ja nicht bei meiner Großmutter enden. Wenn wir meinem Vater glauben, hat sie ihnen überhaupt nichts gesagt, obwohl sie sie wochenlang in ihrer Gewalt hatten … Wer weiß, was … was sie ihr angetan haben. Inzwischen muss ihnen doch klar geworden sein, dass sie sich in meiner Großmutter getäuscht haben.«
»Bist du dir ganz sicher?«, fragte Wolf. Er versuchte gar nicht, seine Zweifel zu verbergen.
Das machte sie wütend. Die Erbin von Luna war doch nur ein Mythos, um den sich Verschwörungen und Legenden rankten. Was hatte ihre fleißige und stolze Großmutter aus der Kleinstadt Rieux damit zu tun?
Aber wie sollte sie irgendetwas mit Gewissheit sagen können, wenn Michelle so etwas Wichtiges so lange vor ihr geheim gehalten hatte?
Ein leises Summen mischte sich unter das Flüstern des Waldes. Die Schienen erwachten zum Leben.
Wolf drückte erneut ihre Hand und riss sie aus ihren Gedanken.
»Scarlet«, sagte Wolf, »es wäre das Beste für sie und für dich, wenn du ihnen irgendwas anbieten könntest. Bitte, denk nach. Wenn du etwas weißt, können wir es vielleicht irgendwie für unsere Zwecke nutzen.«
»Etwas über Prinzessin Selene.«
Er nickte.
Scarlet zuckte ratlos die Achseln. »Aber ich weiß nichts.«
Er sah sie starr an, dann runzelte er die Stirn und ließ ihre Hand los. Mit hängenden Armen stand er vor ihr. »Ist schon gut. Wir denken uns was anderes aus.«
Scarlet wusste, dass er das nur so dahingesagt hatte. Nichts war gut. Diese Ungeheuer jagten einem Phantom hinterher und ihre Großmutter war irgendwie mitten hineingeraten – wegen einer angeblichen Affäre vor vierzig Jahren. Und Scarlet konnte nichts dagegen tun.
Sie schielte hinunter. Ihr Magen rebellierte, als ihr bewusst wurde, wie hoch sie über den Gleisen standen. In der Dunkelheit, in der alles verschwand, kam es ihr vor, als stünde sie am Rande eines Abgrundes.
»Vielleicht noch dreißig Sekunden«, sagte Wolf. »Wenn der Zug unter uns ist, müssen wir schnell sein. Nicht zögern. Traust du dir das zu?«
Scarlets Zunge war trocken und rissig
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