Die Lust des Bösen
nicht, denn sie war eine Naturschönheit, deren Anmut auch ohne stundenlange Styling-Sessions und dicke Schichten von Make-up zur Geltung kam.
Für diesen Tag und das Konzert hatte sie aber eine Ausnahme gemacht. Sie hatte sich ihre langen dunkelbraunen Haare hochgesteckt, was ihrem schönen ebenmäßigen Gesicht eine besonders elegante Note verlieh. Zudem hatte sie eine Spur Make-up, etwas Wimperntusche und Lipgloss aufgelegt, wodurch ihr feiner, blasser Teint, ihre großen, frechen Kinderaugen und ihr Schmollmund noch besser zur Geltung kamen.
Ein kurzer prüfender Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sich der Aufwand wohl gelohnt hatte. Zufrieden zog sie eines ihrer schlichten, schwarzen Etuikleider über, die sie so sehr liebte, setzte sich auf einen Stuhl und schlüpfte in ihre schwarzen Overknees. Dann nahm sie ihre schwarze Lederjacke, summte »You’ll Be In My Heart«, ließ die Tür schwungvoll hinter sich ins Schloss fallen, lief beschwingt die Treppe hinunter und schwang sich auf ihre Harley.
Der imposante, ovale Sandsteinbau des Olympiastadions war ein ganz besonderer Ort mit einer völlig eigenen, unbeschreib lichen Atmosphäre. Immerhin knapp vierundsiebzigtausend Zuschauer fanden hier Platz – und Lea hatte das Gefühl, es waren auch genauso viele gekommen.
Sie hatte einige Mühe, sich im Gedränge der vielen Menschen und im Gewirr der Gänge zurechtzufinden. Wo genau musste sie jetzt hin? Nach einigen Anremplern und einem schier endlosen Hin und Her zwischen den verschiedenen Aufgängen hatte sie es geschafft. »VIP-Lounge E« stand auf dem Schild, und sie trat ein. Zwei freundliche Hostessen nahmen sie in Empfang, sie bekam ein Armband mit der Aufschrift »Phil-Collins-VIP«, das sie zum Eintritt berechtigte. Nach einer kurzen Erklärung der Hostessen, wie sie zum Empfang und dem Buffet kommen würde, war sie endlich angekommen.
Etwas verloren stand sie inmitten eines großen Raumes, durch dessen Zentrum eine Rolltreppe verlief. Auf der Rückseite der Rolltreppe war ein riesiges Buffet vorbereitet, auf der anderen Seite hatte man durch die gigantischen Glasfenster einen tollen Blick auf das Stadion. Sie ging zur Fensterfront und blickte hinaus.
Ja, wenn man hier stand, wurde die Geschichte plötzlich wieder lebendig. Dieses Stadion war untrennbar mit Hitler und den Olympischen Sommerspielen 1936 verbunden.
Wieder dachte sie an den Mörder, den sie suchte und bis jetzt nicht gefunden hatte.
Aber heute war sie hier und wollte nur genießen, wenigstens ein paar Stunden lang sollte es keine Täteranalysen geben, sondern nur sie und die Musik.
Immer wieder schweiften ihre Gedanken jedoch ab in die Zeit des Nationalsozialismus. Dass das Stadion ungefähr an der Ost-West-Achse der von den Nazis geplanten Welthauptstadt Germania ausgerichtet war, wussten wohl nur wenige Konzertbesucher. Noch heute strahlte es etwas von diesem Gigantismus und seinem früheren Glanz aus.
In westlicher Richtung unterbrach das Oval des Stadions eine Öffnung über dem Marathontor. In diesem Bereich musste es wohl gewesen sein, überlegte sie, wo 1936 das Olympische Feuer gebrannt hatte. Heute gab die Passage den Blick auf den Glockenturm und den Himmel frei. Die Sommernacht war mild und klar, und bestimmt würde Lea einen fantastischen Sonnenuntergang erleben.
Ihr Blick schweifte hinüber nach rechts zu den Wänden der Nordtribüne. Dort, genau an dieser Stelle, musste Hitlers Ehrentribüne ihren Platz gehabt haben. Heute ahnte man nichts mehr von der weit auskragenden Tribüne des Führers, denn nach Kriegsende war sie auf Geheiß der britischen Besatzungsmächte um zwei Meter verkürzt worden. Vermutlich hatte man sie entfernt, um der möglichen Entstehung einer neonazistischen Kultstätte vorzubeugen.
Das Stadion füllte sich langsam, und besonders der Innenraum war schon voller Menschen.
Ein kühles Glas Prosecco wäre jetzt genau das Richtige, dachte Lea. Und just in diesem Augenblick hörte sie, wie jemand mit einer angenehmen, unglaublich sympathischen tiefen Stimme sie fragte, ob sie auch etwas zu trinken haben wolle.
Sie drehte sich um und blickte in zwei strahlende, meerblaue Männeraugen, in deren Tiefe sie zu versinken schien. Es war ein magischer Moment, der ihr weiche Knie und schwitzige Hände bescherte. Nur schwer konnte sie sich von diesen Augen losreißen.
Mit seinem schwarzen Anzug, der bestimmt ein Vermögen gekostet hatte, und seinem edlen rosafarbenen Seidenhemd war er – ganz besonders
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