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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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lässt.«
    Jack schaute in die schweigsam gewordene Runde, bevor er fortfuhr: »Stell dir vor, du sitzt eines Tages einmal in einer dieser Abendtalkshows und möchtest ein wichtiges Statement abgeben. Aber keiner der Anwesenden lässt dich ausreden. Alle schreien sich an oder quatschen mit unqualifizierten Bemerkungen dazwischen. Du verlierst deinen Faden und weißt nicht mehr, was du eigentlich sagen wolltest. Wie würdest du das finden?«
    »Na«, Thomas war etwas verlegen, »das wäre nicht korrekt.«
    »Okay, Tim, ich denke, dann kannst du jetzt fortfahren.«
    Der Angesprochene tat, was man von ihm verlangte, und las weiter: »Nach Abschluss der Kolonisation war aus der Mischung altpreußischer, deutscher und überwiegend masowischer Bevölkerungsteile eine besondere Bevölkerungsgruppe entstanden, die einen polnischen, mit vielen deutschen Lehnwörtern durchsetzten Dialekt sprach.«
    Mühsam quälte sich Tim durch den Text, wie ein Grundschüler, der eine Passage aus einem Buch vorlesen musste. Es war ihm zuwider, und genau das merkte man ihm an.
    Aber Jack dachte nicht daran, ihn jetzt schon zu erlösen.
    »Zu Beginn des Ersten Weltkriegs standen die Masuren im Mittelpunkt des Kampfgeschehens und stimmten nach der Beendigung des Krieges und der Niederlage Deutschlands für den Verbleib im Deutschen Reich. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden sowohl ihre Kultur als auch ihre Sprache gänzlich verboten. Neben dem jüdischen Teil der Bevölkerung wurden auch die polnischsprachigen Masuren brutal verfolgt, ermordet oder in KZs und Gefängnissen festgesetzt. Mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939 begann der von Hitler seit Langem geplante Krieg um ›Lebensraum im Osten‹.«
    »Danke für deine Ausführungen, Tim«, kamen die erlösenden Worte Brauns, der den Vortrag in dem Gefühl enden ließ, die Jungs wenigstens ein bisschen auf den Ausflug vorbereitet zu haben.
    Erneut blickte er aus dem Fenster. Die Wälder lagen in all ihrer Farbenpracht vor ihnen – rote, gelbe und braune Blätterteppiche breitete sich vor ihren Augen aus.
    Schade, dass Lea das jetzt nicht sehen konnte. Es hätte ihr sicher gefallen.
    Viele Kilometer lagen hinter ihnen, darunter einige auf Straßen, die man in D eutschland mit Sicherheit absperren würde. Holprig und voller Schlaglöcher, immer wieder tauchten am Straßenrand Verkehrszeichen mit den nach kurzer Zeit so vertrauten zwei schwarzen Höckern für unebenes Gelände vor ihnen auf.
    Links und rechts des Weges sahen sie wunderschöne Laubwälder, dazwischen öffnete sich das leicht hügelige Land und gab den Blick frei auf bereits abgemähte, aber noch goldfarbene Felder und verstreut liegende Waldflächen. Ab und zu tauchten abgewirtschaftete Gehöfte auf oder kleine Ortschaften, ebenfalls heruntergekommen, aber oft mit einer gut erhaltenen Kirche, meist im gotischen Stil, und einem kleinen Friedhof, auf dem ein Meer frischer Blumen zu sehen war. Dann wieder Eichen- und Birkenwälder, so weit das Auge reichte.
    Jacks Blick schweifte über die blattleeren, dürren Birkenbaumstämme, die gen Himmel ragten wie riesige Zahnstocher. Eigentlich eine liebliche Landschaft, wären da nicht unaufhörlich diese verfallenen Häuser gewesen.
    Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, dass dies alles einmal deutsches Gebiet gewesen war. Bis an den Horizont reichte das raue Land. Goldgelbe Stoppelfelder, einige Wiesen, kleine Seen zwischen alldem, vereinzelt stehende Bäume, Baumgruppen und Waldstücke und hier und da die für Ostpreußen so typischen langen Reihen der Alleebäume.
    Und dann hatten sie es endlich geschafft! Die Schranke vor den Toren der Wolfsschanze öffnete sich, und ihr Fremdenführer erwartete sie dort bereits. Robert sprang als Erster von seinem Sitz auf und schrie aufgeregt durch den Bus: »Jungs, wir haben es geschafft, mein Führer, wir kommen.«
    Jack passten diese Naziparolen nicht. Seit seinem Eintritt in die Partei hatte er sich unablässig dafür eingesetzt, dass genau diese Parolen und vor allem die gewalttätigen Übergriffe auf Ausländer und der Fremdenhass aus dem Gedankengut der Partei verschwanden. Und vor allem kämpfte er für einen unvoreingenommen Umgang mit der deutschen Geschichte. Leider war dies seiner Meinung nach durch die deutsche Öffentlichkeit und vor allem natürlich durch die Politik und einige jüdische Organisationen nicht möglich.
    Als Deutscher konnte man – so sah es Jack

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