Die Lust des Bösen
über hatte Margit nur schweigend dagestanden und ihr Todesurteil reglos hingenommen – wie eine dieser aufblasbaren Puppen, unbeweglich und starr. Es schien, als ob jemand einen Schalter umgelegt und alle Fröhlichkeit und jede Form von Optimismus und Lebensmut mit einem Mal aus ihr herausgesaugt hätte. Später, als sie gemeinsam auf dem kalten Krankenhausflur saßen, bat Margit sie schließlich leise, ihr zu helfen. Zuerst hatte Sheyla nicht gewusst, was ihre Schwester meinte. Aber dann fuhr sie mit tränenerstickter Stimme fort: »Lass mich nicht so sterben, so unwürdig, mit Schmerzen, den Ärzten und der ganzen medizinischen Apparatur hilflos ausgeliefert. Ich möchte meinen Tod selbst bestimmen und mein Schicksal selbst in die Hand nehmen.«
Dann hatte sie sie angesehen, mit diesem entschlossenen Blick, der keinen Widerspruch zuließ.
Am Abend waren sie gemeinsam in die Tierarztpraxis ihrer Mutter gefahren, hatten eine Packung Barbiturate, ein Präparat aus der Tiermedizin, aus dem Schrank genommen und es später zu Hause in einem Glas Wasser aufgelöst. Während ihre kleine Schwester trank, hatte Sheyla ihre Hand gehalten und versucht, stark zu sein.
Noch heute konnte sie spüren, wie sich ein dicker Kloß in ihrem Hals festsetzte und ihr jede Luft zum Atmen nahm, so wie damals. Sie hatte nicht gewusst, wie sie das durchstehen sollte, wie sie sich von ihrer Kleinen verabschieden sollte. Aber sie hatte es getan, irgendwie.
»Ich lass dich gehen«, hatte sie ihr mit leiser, aber betont fester Stimme gesagt und ein Lächeln versucht. Schließlich sollte Margit keine Angst bekommen und nicht merken, wie groß die Furcht ihrer großen Schwester war. Sheyla wollte, dass sie loslassen und sich ohne Schuldgefühle auf ihre letzte große Reise machen konnte. Einige Stunden später war sie friedlich eingeschlafen. Niemand hatte es erfahren, selbst ihre Mutter nicht.
Lange hatte sie gebraucht, um über den Verlust hinwegzukommen. Oft hatten sie Zweifel geplagt, ob es richtig gewesen war, Margit beim Sterben zu helfen. In den ersten Wochen nach ihrem Tod hatte sie nahezu täglich an ihre Schwester gedacht, und es hatte wehgetan. Die Trauer hatte nie ganz nachgelassen, auch heute noch gab es ihr einen Stich in die Magengegend.
Die neugierige Mitbewohnerin, die ständig alles wissen wollte und doch so oberflächlich war, machte Sheyla aggressiv.
Nein, auf ein Gespräch hatte sie jetzt keine Lust.
»Gute Nacht, Hisako.« Mit diesem Satz ließ sie die Asiatin ohne ein Wort der Erklärung in der Küche zurück.
J ack sah aus dem Fenster. Der Himmel hatte inzwischen aufgeklart, und die Sonne blinzelte bisweilen durch die Haufen wolken, die ihn an riesige weiße Wattebäusche erinnerten.
Heute Morgen hatte es noch so ausgesehen, als ob es regnen wollte, und jetzt schien es ein schöner Tag zu werden. Trotz dieser guten Aussichten betrübte ihn Leas Absage für den Trip zur Wolfsschanze. Aber »Don’t worry, be happy«, versuchte er sich zu ermuntern. Schließlich steckte in ihm ein unverbesserlicher Optimist. Vielleicht war es auch einfach nur seine gekränkte Eitelkeit oder verletzter Stolz, die ihn übermannt hatten. Er war es nicht gewohnt, Absagen zu kassieren – schon gar nicht von einer Frau. Vielleicht wäre es an der Zeit, überlegte er, ihr mal einen »kleinen, aber lustvollen Denkzettel« zu verpassen. Einen, den sie womöglich nie vergessen würde. Er hatte da schon eine Idee.
Robert riss ihn von der nächsten Reihe aus seinen Gedanken und wollte wissen, wann sie wohl die Wolfsschanze erreichten?
»Noch etwa vierzig Kilometer; ich denke, dass wir in etwa einer Stunde ankommen werden.«
Die Idee zu dieser Reise war ihm bei einem der Parteiaben de mit den sogenannten »NaNos« gekommen – den Nach wuchs-Nationalen, wie die junge Gruppe innerhalb der Partei bezeichnet wurde. Dieser Kosename durfte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch immer viele radikale und gewaltbereite Mitglieder unter ihnen gab. So hatten sich Ausschreitungen und Entgleisungen in letzter Zeit gehäuft. Erst kürzlich hatte es einen Skandal um ihren Kreisvorsitzenden Robert Rot gegeben, der eine südländisch aussehende Frau als »Niggerschlampe« beschimpft und weitere Naziparolen auf dem Kudamm skandiert hatte. Außerdem sollte er gemeinsam mit seinem Parteifreund Tobias Hetzparolen verbreitet haben: »Nicht-Arier« seien eine »Schande für Deutschland«, hatten beide mehrfach in Diskussionskreisen an der Uni
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