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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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beantwortete geduldig ihre Fragen, auch wenn das manchmal einige Stunden in Anspruch nahm. Nur so, glaubte er, konnte er die Wähler für sich gewinnen – indem er zumindest versuchte, anders zu sein, und einen Politikertypus verkörperte, der in den heutigen Zeiten längst verloren schien: einen Politiker aus Lei denschaft. Lange Zeit galten Begriffe wie Fach- und Methoden wissen als die wichtigsten Eigenschaften von Führungskräften in der Politik. Aber zunehmend zeigte sich, dass die Wähler persönliche Charaktereigenschaften und menschliche Werte in den Mittelpunkt ihrer Wahlentscheidung stellten.
    E s klingelte.
    »Kannst du mal zur Tür gehen?«, rief Sheylas WG-Partnerin Hisako laut aus der Küche der Altbauwohnung im Prenzlauer Berg, einem der angesagtesten Viertel Berlins.
    Sheyla öffnete und war mehr als nur überrascht: Vor ihr stand der Fleurop-Bote mit einem Strauß von achtzehn roten Rosen. Natürlich wollte sie sofort wissen, wer ihr die Blumen geschickt hatte, aber der Bote schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten, junge Dame. Aber hier ist ein Brief, der wird sicher alles erklären.«
    Sie nahm den Strauß entgegen, und der Bote war noch nicht ganz die Treppe nach unten gelaufen, da hatte sie schon neugierig das Kuvert geöffnet. Darin fand sie eine schlichte Karte, auf der zu lesen war: »Meine Seele schmachtet nach Deiner Hilfe; ich harre auf Dein Wort. Es schmachten meine Augen nach Deiner Verheißung; sie fragen: Wann wirst Du mich trösten?«
    Verwundert fragte sie sich, wer ihr diese Blumen geschickt haben mochte, und noch dazu mit einem Vers, dessen Bedeutung sie sich nicht erklären konnte.
    »Ich harre auf Dein Wort«, las sie noch einmal und: »Wann wirst Du mich trösten?« Vielleicht einer ihrer Kunden? Aber wer von denen konnte wissen, dass sie hier war und sich eine solche Aktion ausgedacht haben? Keiner von ihnen oder von Sheylas Freunden war so romantisch, ihr rote Rosen zu schicken, und dann auch noch mit einem solch geheimnisvollen Vers. Wie war er zu verstehen, war es eine Liebeserklärung oder waren es die Worte eines verstoßenen Lovers?
    Sie überlegte und ging zurück in die Küche, wo ihre Mitbewohnerin gerade eine chinesische Reispfanne zubereitete.
    »Wow«, entfuhrt es ihr bewundernd, als sie Sheyla mit diesen wunderschönen Rosen in der Hand in die Küche kommen sah. »Hast du einen neuen Verehrer? Wer ist es denn? Kenne ich ihn?«
    »Ich glaube nicht«, entgegnete Sheyla kurz und knapp, denn die Neugier ihrer Mitbewohnerin ging ihr ziemlich auf die Nerven. In Gedanken war sie schon bei ihrer morgigen Klausur in Entwicklungspsychologie und bei ihrem Abend in Gdansk, wo sie sich mit einem Kunden der Agentur treffen sollte.
    Sie freute sich schon darauf, wieder nach Hause zu kommen und ihren Vater und ihre Mutter wiederzusehen. Seit dem Tod ihrer Schwester Margit vor fünf Jahren war sie nicht mehr dort gewesen. Zu schmerzlich waren die Erinnerungen an ihre Kleine, die sie so geliebt hatte. Alles hatten sie geteilt, durch dick und dünn waren sie gegangen, und die Jungs hatten sie damals ganz schön an der Nase herumgeführt. Und dann eines Morgens war Margit in der Dusche zusammengebrochen. Nach unzähligen Untersuchungen im Krankenhaus, Ultraschall, Blutabnahme und einer MRT schließlich die Diagnose: Raumforderung im Kleinhirn. Was genau das bedeutete, hatten die Ärzte zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst. Nach einer Biopsie hatten sie schließlich Gewissheit: Krebs – ein Glioblastom und damit einer der aggressivsten Tumore überhaupt. Von einem Tag auf den anderen änderte sich alles. Sheyla begleitete ihre Schwester zu jeder ihrer zahllosen Chemo- und Strahlentherapiesitzungen ins Krankenhaus. Und gleich, wie schlecht es ihr ging, so hatte Margit doch immer einen frechen Spruch für die jungen Stationspfleger auf den Lippen, flirtete und munterte Patienten auf. Es war ihre heitere Art, der geradezu unerschütterliche Optimismus, den sie ausstrahlte, der sie zu etwas ganz Besonderem machte, und das, obwohl sich ihr Zustand in den letzten Wochen zusehends verschlechtert hatte. Sie litt unter Sprachverlust, Vergesslichkeit und konnte zuletzt ihre Beine nicht mehr bewegen. Hinzu kam die ständige Übelkeit durch die Chemotherapie. Schließlich eröffnete ihr der Professor, dass er nichts mehr für sie tun könnte. Im MRT habe sich gezeigt, dass der Tumor rasant gewachsen sei und sich im ganzen Gehirn ausgebreitet hätte. Die gesamte Zeit

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