Die MacGregors 05 - Stunde des Schicksals
ein wenig, als er nach der Champagnerflasche griff. Daniel füllte das Glas bis zum Rand und leerte es in einem Zug.
3. K APITEL
Am nächsten Morgen arbeitete Anna im Krankenhaus. Die Zeit, die sie hier verbrachte, machte ihr zum Teil Spaß, zum Teil war es frustrierend. Niemandem, weder ihren Eltern noch ihren Freunden, hatte sie je verständlich machen können, mit welcher Aufregung es sie erfüllte, wenn sie eine Klinik betrat. Niemand würde verstehen, welche Befriedigung allein das Wissen ihr verschaffte, dazuzugehören – zu dieser Welt des Forschens und Helfens.
Die meisten Menschen dachten nur mit Unbehagen an ein Krankenhaus. Krankenhaus bedeutete weiße Wände und grelles Licht, der Geruch von Desinfektionsmitteln war unweigerlich verbunden mit Krankheit, sogar Tod. Für Anna jedoch verkörperten sie Leben und Hoffnung. Die Stunden, die sie hier arbeitete, bekräftigten nur ihren Wunsch, eines Tages zu der Ärzteschaft zu gehören. Genau wie die Stunden, die sie über ihren Büchern hing, sie nur entschlossener machten, alles zu lernen, was es zu lernen gab.
Sie hatte einen Traum, den sie mit niemandem teilen konnte. Für Anna war es ganz einfach: Sie wollte etwas bewegen. Und um ihren Traum wahr werden zu lassen, investierte sie Jahre ihres Lebens, um zu lernen.
Selbst jetzt, während sie Laken faltete und Zeitschriften sortierte, lernte sie. Sie sah, wie die jungen Ärzte sich nach einer nahezu schlaflosen Nacht auf die erste Visite konzentrierten. Viele von ihnen würden es trotz bester Noten im Examen nicht schaffen. Aber sie würde es. Anna sah und hörte genau hin und wurde immer entschlossener, nicht zu scheitern.
Und sie lernte noch etwas. Etwas, das sie nie vergessen würde: Das Rückgrat eines Krankenhauses waren nicht die Chirurgen oder die Assistenzärzte. Auch nicht die Verwaltungsangestellten, die Budgets planten und Entscheidungen trafen. Die Ärzte untersuchten und stellten Diagnosen, aber es war das Pflegepersonal, das heilte. Am Rande der Erschöpfung, jeden Tag endlose Stunden auf den Beinen, kilometerlange Strecken auf den Korridoren, doch stets voller Hingabe. Die Assistenzärzte wurden bis zum Äußersten getrieben, um die Spreu vom Weizen zu trennen, das Pflegepersonal wurde einfach nur bis zum Äußersten getrieben.
Und jetzt, vor dem letzten Studienjahr, nahm Anna sich etwas vor. Ganz fest. Eisern. Sie würde Ärztin werden, Chirurgin, aber sie würde mit ihren Patienten fühlen, so wie die Krankenschwestern es taten.
»Oh, Miss Whitfield.« Mrs. Kellerman, die Oberschwester, hielt Anna mit einer knappen Handbewegung auf. Seit zwanzig Jahren, seit sie Witwe war, arbeitete sie in ihrem Beruf. Mit fünfzig war sie unerschütterlich wie eine Veteranin und unermüdlich wie eine Lernschwester. Und mit ihren Patienten war sie so sanft, wie sie mit ihren Schwestern hart war. »Mrs. Higgs auf 521 hat nach Ihnen gefragt.«
Anna hob den Stapel Zeitschriften, den sie auf dem Arm trug, höher. »Wie geht es ihr heute?«
»Sie ist stabil«, erwiderte die Oberschwester, ohne den Blick von ihren Unterlagen zu nehmen. Sie hatte die Hälfte ihrer Zehnstundenschicht hinter sich und keine Zeit für Geplauder. »Ihre Nacht war ruhig.«
Anna unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste, dass Mrs. Kellerman selbst nach der Patientin gesehen hatte und ihr Genaueres hätte sagen können. Allerdings kannte Anna auch die Einstellung der Oberschwester, wie das System zu funktionieren hatte: Frauen waren in einem Bereich tätig, Männer in einem anderen. Überlappungen hatte es nicht zu geben. Ohne Ausnahme. Anna verkniff sich einen Kommentar und steuerte Zimmer 521 an. Sie würde eben selbst nachsehen.
Durch die geöffnete Jalousie schien die Sonne auf weiße Wände und weiße Laken. Ein Radio spielte leise. Mrs. Higgs lag reglos in ihrem Bett. Ihr schmales Gesicht war faltiger, als es einer noch nicht Sechzigjährigen anstand. Ihr Haar war schütter, das Grau matt und gelblich. Das Rouge, das sie früh am Morgen aufgelegt hatte, wirkte unnatürlich und stach wie hektische rote Flecken von den blassen Wangen. Auch wenn die ungute Farbe Anna beunruhigte, so wusste sie doch, dass alles Menschenmögliche für Mrs. Higgs getan wurde. An den blassen Händen stach der rote Nagellack hervor. Anna lächelte. Mrs. Higgs hatte ihr gestanden, dass sie vielleicht ihr gutes Aussehen verlieren mochte, aber nie ihre Eitelkeit.
Da Mrs. Higgs die Augen geschlossen hatte, achtete Anna darauf, die Tür so leise wie
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