Die MacGregors 05 - Stunde des Schicksals
erkennen. Wie erkannte man Liebe? Und falls es das sein sollte, was wollte sie dann unternehmen?
Nur eines hatte Anna während seiner Abwesenheit herausgefunden: Sie vermisste ihn. Sie war so sicher gewesen, dass sie nicht einmal an ihn denken würde. Dabei hatte sie kaum an etwas anderes als an ihn gedacht. Aber wenn sie nachgab, wenn sie alle Vorsicht in den Wind schlug und seinen Antrag annahm, was würde dann aus ihrem Traum werden?
Sie könnte ihn heiraten, seine Kinder bekommen, ihm ihr Leben widmen … und ihn mehr und mehr verabscheuen, weil sie dafür ihre eigenen Wünsche hatte aufgeben müssen. Das wäre nur ein halbes Leben, und Anna zweifelte nicht daran, dass sie das nicht ertragen würde. Und wenn sie ihn abwies? Hieße das nicht auch, nur ein halbes Leben zu führen?
Diese Fragen quälten sie tagaus, tagein, ließen sie in der Nacht nicht zur Ruhe kommen. Sie kannte die Fragen, aber sie fand keine Antworten. Also traf sie gar keine Entscheidung, wohlwissend, dass ein solcher Entschluss ein Leben lang seine Gültigkeit bewahren würde.
Sie zwang sich dazu, die Routine in ihrem Leben aufrechtzuerhalten. Um sich von den quälenden Fragen abzulenken, ging sie mit Freunden ins Theater und auf Partys. Tagsüber stürzte sie sich in die Arbeit im Krankenhaus, getrieben von einer Energie, die ihrer Frustration entstammte.
Wie immer besuchte sie zuerst Mrs. Higgs. Anna brauchte keinen Titel, um zu erkennen, dass die alte Dame nicht mehr lange zu leben hatte. Trotz ihrer anderen Pflichten versuchte sie, so viel Zeit wie möglich in Zimmer 521 zu verbringen.
Eine Woche nach dem Abendessen bei Daniel setzte Anna bewusst ein Lächeln auf und ging zu Mrs. Higgs. Diesmal waren die Vorhänge zugezogen, im Raum lagen mehr Schatten als Licht. Fast schien es, als würden diese Schatten geduldig warten.
Ihre Lieblingspatientin war wach und starrte lustlos auf die welken Blumen neben dem Bett. Als sie Anna sah, leuchteten ihre Augen auf.
»Ich bin so froh, dass Sie hier sind. Ich habe gerade an Sie gedacht.«
»Ich musste doch kommen.« Anna legte die Zeitschriften auf den Nachttisch. Instinktiv spürte sie, dass Hochglanzbilder der schillernden Modewelt nicht das waren, was Mrs. Higgs heute brauchte. »Wie sonst sollte ich Ihnen den neuesten Klatsch berichten, den ich gestern auf der Party, bei der ich war, gehört habe?« Sie tat, als müsste sie das Laken glatt streichen, und warf einen Blick auf das Krankenblatt. Betrübt stellte sie fest, dass Mrs. Higgs’ Zustand sich rapide verschlechtert hatte. Doch als sie sich auf den Stuhl neben dem Bett setzte, lächelte sie.
»Sie erinnern sich doch an meine Freundin Myra?« Anna wusste, wie gern Mrs. Higgs von Myras Eskapaden hörte. »Gestern Abend trug sie ein trägerloses Kleid. Der Ausschnitt war so gewagt, dass einige der älteren Damen fast in Ohnmacht gefallen wären.«
»Und die Männer?«
»Nun ja, sagen wir, Myra konnte sich zwischen den Tänzen kaum ausruhen.«
Mrs. Higgs lachte und verzog das Gesicht, als der Schmerz einsetzte. Anna sprang auf.
»Ich hole den Arzt.«
»Nein.« Die Hand, mit der Mrs. Higgs nach Annas Hand griff, besaß überraschend viel Kraft. »Der gibt mir nur wieder eine Spritze.«
Tröstend rieb Anna über das zerbrechlich wirkende Handgelenk, während sie den Puls maß. »Nur gegen die Schmerzen, Mrs. Higgs. Sie müssen doch nicht leiden.«
Mrs. Higgs entspannte sich und ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken. »Lieber Schmerzen als gar nichts fühlen. Es geht schon wieder.« Sie lächelte matt. »Mit Ihnen zu reden ist besser als jede Medizin. Ist Ihr Daniel schon zurück?«
Den Finger noch immer am Puls, setzte Anna sich wieder. »Nein.«
»Es war so nett von ihm, mich zu besuchen, bevor er nach New York flog. Stellen Sie sich vor, auf dem Weg zum Flughafen ist er bei mir vorbeigekommen.«
Diese Neuigkeit verwirrte Anna nur noch mehr. »Er besucht Sie gern. Das hat er mir erzählt.«
»Er hat mir versprochen, dass er wieder kommt, wenn er aus New York zurück ist.« Sie warf einen Blick auf die Rosen, die die Schwestern nicht wegnehmen durften, obwohl sie schon eine Woche alt waren. »Es ist etwas Besonderes, jung und verliebt zu sein.«
Anna spürte einen Stich im Herzen. Liebte er sie denn? Er hatte sie erwählt, er begehrte sie, aber Liebe war etwas anderes. Sie wünschte, sie hätte jemanden, bei dem sie sich aussprechen könnte. Aber Myra war in letzter Zeit ständig beschäftigt, und jemand anders würde
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