Die MacGregors 05 - Stunde des Schicksals
sie nicht verstehen. Und Mrs. Higgs durfte sie mit ihren Problemen sicherlich nicht belasten, wenn sie doch gekommen war, um zu trösten. Also streichelte sie lächelnd die Hand der Patientin. »Sie waren bestimmt oft verliebt.«
»Oh ja. Sich zu verlieben ist so einfach, Anna. Es ist so aufregend, das ständige Auf und Ab, die Erregung. Wie ein sich ewig drehendes Karussell, und die Musik hört nie auf zu spielen. Aber es dann auch zu bleiben, liebend …« Sie seufzte, in Erinnerungen versunken. »Das ist der Irrgarten, das Verworrene, immer wieder neue Abzweigungen und Straßen, die ins Nichts führen. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, muss immer weitergehen und es neu versuchen, voller Zuversicht und Vertrauen. Ich hatte nur so kurze Zeit mit meinem Mann, und nach ihm habe ich es nie wieder im Irrgarten versucht.«
»Wie war er, Ihr Mann?«
»Oh, er war jung und so ehrgeizig. Voller Pläne. Sein Vater hatte ein Lebensmittelgeschäft, und Thomas wollte es erweitern. Er war so clever. Aber dazu kam er nicht mehr … Es sollte nicht sein. Glauben Sie daran, dass manche Dinge vorherbestimmt sind, Anna?«
Sie dachte an ihr Studium, an ihren Wunsch, Menschen zu heilen. Sie versuchte, nicht an Daniel zu denken. »Ja, das tue ich.«
»Thomas war es vorherbestimmt, jung zu sterben. Und doch, er war so voller Tatkraft und hat in seinem kurzen Leben viel erreicht. Je öfter ich an ihn denke, desto mehr bewundere ich ihn. Ihr Daniel erinnert mich an ihn.«
»Wie das?«
»Der Schwung – jene Tatkraft, die man ihnen vom Gesicht ablesen kann. Und dann weiß man einfach, dass diese Menschen großartige Dinge vollbringen werden.« Mrs. Higgs lächelte und wehrte sich gegen den Schmerz. »Da ist eine gewisse Rücksichtslosigkeit zu erkennen, die sie antreibt, alles zu tun, war nötig ist, um zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben. Aber da gibt es auch Sanftmut, Güte und Großzügigkeit. Jene Großzügigkeit, die Thomas dazu brachte, einem Kind, das kein Geld hatte, eine Hand voll Bonbons zu schenken. Jene Güte, die Ihren Daniel dazu bringt, eine alte Frau zu besuchen, die er gar nicht kennt. Ich habe mein Testament geändert …«
Besorgt richtete Anna sich auf. »Mrs. Higgs …«
»Oh, jetzt regen Sie sich gefälligst nicht auf.« Die alte Dame schloss die Augen, um Kraft zu sammeln. »Ich sehe Ihnen schon an, Sie fürchten, ich könnte Sie da in was hineinziehen. Thomas hat mir etwas hinterlassen, und ich habe es gut angelegt. Es hat mir ein gutes Leben garantiert. Ich habe keine Kinder, keine Enkel. Aber für Reue ist es jetzt zu spät. Ich möchte der Welt etwas zurückgeben, ich möchte, dass jemand sich an mich erinnert.« Sie sah Anna an. »Ich habe mit Daniel darüber gesprochen.«
»Mit Daniel?« Beunruhigt beugte Anna sich vor.
»Er ist clever, genau wie mein Thomas. Ich habe ihm gesagt, was ich will, und er hat mir erklärt, wie ich es tun muss. Mein Anwalt hat für mich eine Stiftung gegründet, und ich habe Daniel zu meinem Nachlassverwalter ernannt, damit er sich um alles kümmern kann.«
Anna wollte das Thema Sterben als viel zu verfrüht abtun, doch dann wurde ihr bewusst, dass Mrs. Higgs keine Angst vor dem Tod hatte. »Was für eine Stiftung?«
»Eine Stiftung für junge Frauen, die in die Medizin gehen wollen.« Mrs. Higgs lächelte über Annas verblüfften Gesichtsausdruck. »Ich wusste, dass es Ihnen gefallen würde. Ich habe mich gefragt, was ich machen könnte, und dann musste ich an Sie denken und an all die wunderbaren Schwestern, die sich so nett um mich gekümmert haben.«
»Das ist eine wunderbare Idee, Mrs. Higgs!«
»Ich hätte allein sterben können, ohne jemanden, der bei mir sitzt und mit mir redet. Ich hatte Glück.« Sie ergriff Annas Hand. »Anna, machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich. Denken Sie nicht, dass Sie niemanden brauchen. Lassen Sie die Liebe zu, leben Sie mit ihr. Fürchten Sie sich nicht vor dem Irrgarten.«
»Nein«, flüsterte Anna. »Das werde ich nicht.«
Mrs. Higgs fühlte keinen Schmerz mehr. Sie fühlte kaum noch etwas, starrte mit gebrochenen Augen in das Licht, das immer schwächer wurde. »Wissen Sie, was ich tun würde, wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte?«
»Was denn?«
»Ich würde mir alles nehmen.« Sie lächelte, auch wenn die Ränder um das Licht verschwammen. »Es war dumm von mir zu glauben, man könnte mit einzelnen Teilen zufrieden sein. Thomas hätte es besser gewusst.« Erschöpft schloss sie die Augen.
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