Die Macht der ewigen Liebe
Morgen wurden die Souvenirshops entlang der Laufstege schon von zahllosen Fremden belagert. Ich kaufte für fünf Dollar ein San-Francisco-T-Shirt und zog es mir mitsamt Lucys Perücke und meiner San-Francisco-Baseballkappe über. Dann zockelte ich den Touristen hinterher und tat so, als interessierte ich mich für die Magneten, Schnapsgläser und Schlüsselanhänger in Form von Cable Cars oder in Form der Golden Gate Bridge.
Dann erstand ich ein Ticket für die Fähre am Pier 41 und blickte mich verstohlen nach Beschützern und Heilern um. Die Luft schien rein zu sein. Die ersten Passagiere gingen bereits an Bord, und ich reihte mich in die Warteschlange ein. An Bord konnte ich Erin zunächst nicht entdecken. Auf dem unteren Deck war sie nicht, deshalb stieg ich die Treppe hinauf. Trotz des fantastischen Ausblicks auf die Golden GateBridge und auf die ehemalige Gefängnisinsel Alcatraz hatten sich an diesem Morgen nur wenige Mitfahrende entschließen können, den kalten Winden zu trotzen, denen man auf dem oberen Deck ausgesetzt war. Anders Erin. Ich entdeckte sie – eingemummelt in einen kurzen Mantel, eine Strickmütze und einen Schal – allein auf einer der Holzbänke. Sie starrte auf das graublaue Wasser und den blauen, wolkenlosen Himmel.
»Hey«, begrüßte ich sie und ließ mich neben ihr nieder.
Sie fuhr zusammen. »Remy! Und ich dachte schon, du würdest es nicht schaffen.«
»Ich wollte sichergehen, dass du allein bist«, erklärte ich. »Wie lief es gestern Abend noch? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht nötig. Alcais war einfach nur Alcais.«
Ein fieses Arschloch also.
Ein Lächeln umspielte ihren Mund, als hätte sie meine Gedanken gehört. »Du hasst ihn wirklich, was?« Ich zog die Brauen hoch, und sie setzte hinzu: »Ich habe gestern Abend dein Gesicht gesehen. Und das deines Freundes.«
Ich verzog die Miene. »Das mit Asher tut mir leid. Ich glaube, du weißt vielleicht nicht alles über deinen Bruder, oder? Was er so getan hat, meine ich.«
»Was meinst du?«
Ihre braunen Augen schimmerten in einem unschuldigen Licht, und ich fragte mich, wie viel ich ihr erzählen sollte. Würde ich sie in Gefahr bringen, wenn ich ihr zu viel anvertraute? Auf der anderen Seite würde sie uns vielleicht gern unterstützen, wenn sie wüsste, wozu Franc und Alcais fähig waren.
Sie berührte meine Hand, wobei ihr rosafarbener Strickhandschuh wie eine Art Trennwand zwischen ihrer und meinerHaut funktionierte. »Es ist okay, Remy. Du kannst es mir ruhig sagen. Dass Alcais kein Unschuldsengel ist, weiß ich.«
Natürlich wusste sie das, schließlich war sie als seine Schwester sein häufigstes Opfer. Dennoch glaubte ich nicht, dass ihr klar war, wie grausam Alcais tatsächlich sein konnte. Konnte ich ihr wirklich sagen, was für ein Ungeheuer er war? Nachdem das Leben meines Vaters auf dem Spiel stand, schreckte ich vor fast nichts zurück. Ihr alle Illusionen zu zerstören war vergleichsweise harmlos.
Unsere Fahrt dauerte zwanzig Minuten, und ich nutzte den Großteil davon.
Erin wurde kreidebleich, als ich ihr beschrieb, was mein Großvater und Alcais Asher und mir angetan hatten. Die Entführung. Die Folter. Die Art und Weise, wie Franc mich manipuliert hatte. Dann erzählte ich ihr von Yvette und den anderen Heilerinnen, die er geopfert hatte, damit einige Beschützer im Gegenzug mit ihm zusammenarbeiteten.
»Oh mein Gott!«, flüsterte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf ihren Schal. »Ich habe sie gekannt. Yvette war einer der freundlichsten Menschen, die es gibt. Sie hat so vielen geholfen, wie sie nur konnte.«
Ich glaube, Erin merkte gar nicht, wie sehr sie zitterte; ich legte ihr einen Arm um die Schulter, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass meine Abwehrmauer stand. Einmal hatte ich sie berührt, ohne dass mein Schutzwall hochgefahren war, und beinahe wäre ich über sie hergefallen. Damals hatte ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich in mancherlei Hinsicht wie andere Beschützer tickte und dass ich einer Heilerin die Energie rauben konnte. In Erins Nähe musste ich aufpassen, sonst wurde es gefährlich für sie.
»Wir haben Franc vertraut«, meinte sie mit brüchiger Stimme.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
Wie unzulänglich diese Worte klangen! Schließlich hatte ich ihre Welt gerade in den Grundfesten erschüttert. Der Mensch, von dem Erin geglaubt hatte, er würde sich um sie und ihre Familie kümmern, hatte sie auf
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