Die Macht der ewigen Liebe
Während ich mich in dem Raum voller Menschen umgesehen hatte, die ich liebte, hatte ich begriffen, dass sie alle hätten umkommen können. Meine Gegenwart brachte ihr Leben in Gefahr, und das durfte nur noch begrenzt so weitergehen. Es war zwar nicht direkt meine Schuld, trotzdem. Sobald wir meinen Vater gefunden hatten, würde ich ein zweites Mal von meiner Familie lassen, selbst wenn mich das umbrachte. Und wenn die Blackwells dadurch wieder ein sicheres Leben führen könnten, dann würde ich mich auch von ihnen fernhalten. Für immer. Ich würde sie verlassen und nicht mehr zurückkehren.
»Stört es dich, wenn ich mich zu dir geselle?«, fragte Gabriel.
Ich drehte den Kopf zur Seite und sah, wie auch er über den Dachfirst kletterte. Ich seufzte, kein bisschen überrascht. »Nur wenn du mich jetzt nicht anschnauzt, was ich auf dem Dach verloren habe.«
Er legte sich ein kleines Stück von mir entfernt. Seine Zähne blitzten in der Dunkelheit hell auf. »Ich schnauze dich nicht an, versprochen.«
»Woher wusstest du, dass ich hier oben bin?«, fragte ich.
»Das ist ja nicht schwer. Wann immer du an etwas zu knabbern hast, gehst du ins Freie.« Er starrte zum Himmel empor.
Ich zog die Stirn kraus. »Tue ich nicht!«
Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte. »Doch. Wälder, Ozeane. Egal was, Hauptsache, du bist an der frischen Luft.«
Ich dachte darüber nach. Ja, er hatte recht. In Blackwell Falls war ich an den Strand oder in den Wald gestürmt. In San Francisco genauso. Irgendwie wirkte der Himmel wie Balsam auf meine Seele. Vielleicht lag der Grund darin, dass ich in dem New Yorker »Wald« aus Stahl und Beton groß geworden war, wo einem jeglicher Ausblick durch Wolkenkratzer verwehrt wurde. Komisch, dass Gabriel diese Angewohnheit aufgefallen war, mir aber selbst nicht.
»Mir fällt alles an dir auf«, sagte er leise.
Hey, Zutritt verboten! Ich riss meine mentale Mauer hoch, auch wenn er das Gesicht vor Schmerzen verzerrte. Sorry! Aber augenblicklich wollte ich wirklich nicht, dass jemand meine Gedanken las. Das Schweigen hielt an, aber das war völlig okay.
Ich betrachtete die Sternbilder und ließ meine Gedanken schweifen. Seit Lauras Tod hatten die Schmerzen so vielesin Schach gehalten. Wie konnte ich um sie trauern, wenn es wehtat zu denken, zu atmen, zu sein? Doch jetzt, in schmerzfreiem Zustand, verzehrte mich die Traurigkeit wie ein Tsunami, der jegliche Illusion von Kontrolle vernichtete. Eine Träne zeigte sich, dann zwei. Schniefend legte ich den Arm auf mein Gesicht.
Gabriel rutschte näher, und sein Körper erwärmte meinen von der Schulter bis zum Oberschenkel. Er schob den Arm unter meinen Hals und zog mich trotz meines armseligen Protests an sich. Eine große Hand umfasste meinen Kopf und drückte mein Gesicht an seine Brust. Mich verwirrte das zutiefst, doch dann hatte ich einen Schluckauf und begriff, dass ich lauter geweint hatte, als ich dachte.
»Los jetzt, Remington, lass dich gehen. Hier bekommt es keiner mit, und ich werde mich darüber nicht auslassen.«
Er fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, streichelte die Strähnen auf meinem Rücken. Wie zum Beweis, dass er mich nicht anmachen wollte, ließ er die andere Hand hinter meinem Hals. Es ging allein darum, Trost zu spenden, um sonst nichts.
»Lass mich dir ein Freund sein«, sagte er.
Nach diesem Angebot brachen alle Dämme. Ich umklammerte das Revers seiner Jacke und weinte zum ersten Mal seit Lauras Tod wirklich. Ich dachte an das Lächeln meiner Stiefmutter und die Liebe, die sie mir entgegengebracht hatte, selbst dann, als ich mir sicher war, sie nicht zu verdienen. Ich erinnerte mich an das grimmige Gesicht, das sie machte, wenn sie mich ermahnen musste, obwohl sie das gar nicht gern tat. Sie war eine Mutter, die einen lieber umarmte als strafte, und ich hatte jeden noch so kleinen Beweis ihrer Liebe aufgesogen. Ich vermisste sie schrecklich und konnte nicht fassen, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.
Als meine Tränen versiegten, tat mein Hals weh. Ich bekam so einen starken Schluckauf, dass ich erschauerte. Ich holte Luft, und dann lief mir auch noch die Nase. Oh Mist! Vermutlich läuft mir der Rotz aus der Nase, und wo habe ich ein Taschentuch? Natürlich keins zur Hand? War ja klar.
Gabriel lachte, und mein Kopf bewegte sich auf seiner Brust hin und her. Verflixt! Bei starken Empfindungen konnte er meine Gedanken selbst dann noch lesen, wenn meine mentale Mauer oben war. Er steckte
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