Die Macht der ewigen Liebe
ausgelassen?«
Darüber hatte ich mich auch schon gewundert. »Keine Ahnung. Ich war immer froh, dass du keine hast. Ich dachte, du wärst auf die Art nicht so vielen Gefahren ausgesetzt. Ehrlich gesagt, war ich deswegen sogar eifersüchtig auf dich.«
»Weil ich normal bin? Mensch, danke!«, sagte Lucy und lachte.
»Das ist mein Ernst. Alles was ich immer wollte, war,normal zu sein. Ich habe mir das alles nicht gewünscht. Aber ich habe etwas beschlossen. Ich halte damit nicht mehr hinterm Berg. Ich habe die Nase voll davon wegzulaufen, und es bringt auch nichts. Darf ich dir etwas erzählen, das ich den anderen verschwiegen habe?«
Ich ließ mich auf mein Kissen zurückfallen und beschrieb, wie wütend ich gewesen war, als Seamus mir gedroht hatte, mich gefangen zu halten.
»Was für ein Arsch! Und was hast du getan?«
»Ich habe ihm eine Gabel in die Hand gerammt und ihn dann mit seinem Messer angegriffen.« Ich spürte das Entsetzen meiner Schwester. »Seine Männer haben Schiss vor mir, und es fühlte sich gut an, für mich selbst einzustehen. Seamus weiß jetzt, dass er mich nicht noch einmal derart herumschubsen kann.«
»Du hast dich wirklich verändert«, sagte Lucy leise.
»Ja, das denke ich auch. Und zum Besseren, hoffe ich.«
»Sei vorsichtig, Remy. Ich will damit nicht sagen, dass du deine Fähigkeiten nicht einsetzen sollst, aber du bist alles an Familie, was ich habe«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Bitte pass auf, dass dir nichts passiert.«
Meine Schwester verlor den Glauben. Das hörte ich ihr an.
»Hey! Wir kriegen unseren Dad zurück!«
Sie drückte meine Finger, aber ich war mir nicht sicher, ob ich sie überzeugt hatte. Inzwischen war so viel Zeit vergangen, dass es nicht leichtfiel, noch Hoffnung zu hegen. Schließlich hatten wir unseren Vater fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Ich schloss die Augen und stellte mir sein Gesicht vor, seine blauen Augen und sein schwarzes Haar. Mein Vater konnte freundlich und streng sein. Als ich aufhörte, ihn Ben zu nennen, und stattdessen »Dad« zu ihm sagte, war er dahingeschmolzen. Er liebte schnelle Autos, schnelle Boote undseine Stadt. Und er liebte Lucy und mich. Tränen traten mir in die Augen, doch ich wollte nicht weinen, sondern mich so an ihn erinnern, dass ich lächeln musste.
»Lucy, habe ich dir je von meiner ersten Fahrstunde mit Dad erzählt?«
Wir drehten uns um, damit wir einander im Dunkeln ansahen, und ich erzählte ihr davon, wie ich über einen Bordstein gefahren und dann beinahe in einen Baum gekracht wäre. Sie musste so kichern, dass sie schnaubte.
»Er tat so, als wäre er die Ruhe selbst, aber du hättest sehen sollen, wie kräftig er mit dem Fuß auf die nicht vorhandene Bremse stieg!«
Ich kickte gegen die Bettdecke, als würde ich einen Wagen anzuhalten versuchen, und wir beide brachen in haltloses Gelächter aus. Es war so schön, befreit zu lachen, dass ich eine weitere Geschichte erzählte, diesmal über Laura. Dann erzählte Lucy eine. Wir redeten stundenlang über unsere Eltern, lachten schallend und versuchten, uns gegenseitig zu übertreffen. Und schliefen erst ein, als die Sonne aufging und das Zimmer in sanfte Orange- und Gelbtöne tauchte. Ausnahmsweise schlummerten wir beide lächelnd ein.
Irgendwann um die Mittagszeit wachte ich auf und nahm meine Klamotten mit ins Badezimmer, um Lucy nicht aufzuwecken. Ich wollte Gabriel sehen und schlüpfte in eine Jeans und eines der hübscheren Tops, das Lucy für mich ausgesucht hatte. Aber als ich mein Spiegelbild erblickte, stutzte ich. Ich war mit nassen Haaren schlafen gegangen, und das sah man auch. Na toll, nun stand meine dunkelblonde Mähne kraus vom Kopf ab. Dazu noch die durch den Schlafmangel entstandenen dunklen Augenringe … Ich sah einfach schrecklich aus. Gabriel mochte mich zwar schon in einem weitaus schlimmeren Zustand erlebt haben, aber das hieß noch lange nicht, dass ich den noch übertreffen musste. Seufzend drehte ich die Dusche auf, um noch mal von vorn anzufangen. Zumindest meine Frisur konnte ich in Ordnung bringen.
Zwanzig Minuten später hingen mir die nassen Strähnen bis zur Taille; sie waren für meinen Geschmack viel zu lang. Mein Aussehen hatte für mich schon so lange keine Rolle mehr gespielt, dass ich gar nicht darauf gekommen war, meine Haare zu schneiden. Jetzt konnte mir nur noch eine helfen. Lucy!
Als ich mich neben sie aufs Bett plumpsen ließ, stöhnte sie auf. »Geh weg!«, murmelte sie.
Ich lachte.
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