Die Macht der ewigen Liebe
»Oh, nun wird der Spieß mal umgedreht. Nun erlebst du mal, wie es ist, aufgeweckt zu werden!« Mehr als einmal war sie, noch bevor ich die Augen aufgeschlagen hatte, fröhlich in mein Zimmer gehüpft. »Rache ist süß! Jetzt komm, Lucy. Ich brauche deine Hilfe!« Sie zog sich die Decke über den Kopf und rührte sich nicht. Ich beugte mich über sie und senkte die Stimme. »Bitte … ich möchte mir die Haare schneiden, bevor ich Gabriel begegne.«
Das funktionierte. Sie warf die Bettdecke beiseite und kreischte in einem so hohen Ton, dass ich mir die Ohren zuhielt: »Du stehst auf Gabriel!«
Ich hielt ihr den Mund zu und linste zur Tür. Niemand erschien, aber das hieß nicht, dass es ein Beschützer nicht gehört hatte. »Klappe, Mensch! Wir versuchen gerade, alles auf die Reihe zu kriegen.«
»Weiß Asher davon?«, murmelte sie.
»Ja. Wir haben uns gestern ausgesprochen.« Ich ließ meine Hand sinken.
Sie furchte die Stirn. »Er muss so traurig sein.«
Ich nickte. »Ist er auch. Die Sache zwischen uns ist schon lange zu Ende, aber es tut trotzdem weh.«
Sie musste etwas von meiner Trauer gespürt haben, denn sie berührte ganz leicht meine Wange. »Es tut mir leid. Du hast so viel durchgemacht, und ich war nicht für dich da.«
Ich lächelte. »Das kannst du ja jetzt wiedergutmachen. Ich brauche einen neuen Haarschnitt!«
Sie schwang sich mit mehr Begeisterung aus dem Bett, als ich es seit Langem bei ihr erlebt hatte. Sie rannte nach oben, um nach einer Schere zu fahnden, und ich betete, dass ich am Ende nicht mit einer windschiefen Irokesenfrisur dastand.
Ich saß auf einem Stuhl, den wir ins Badezimmer gezogen hatten, und schluckte, wann immer die nächste fünfzehn Zentimeter lange Haarsträhne zu Boden fiel. Als Lucy mit dem Schneiden fertig war, war nicht mehr viel anderes nötig. Da meine Haare nicht mehr durch ihr Gewicht so heruntergezogen wurden, zeigten sich die Locken und wellten sich fast bis zur Rückenmitte. Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch.
Wir räumten schnell auf, dann begab ich mich auf die Jagd nach Gabriel, nur um herauszufinden, dass er wieder auf Patrouille gegangen war. Ich war enttäuscht und bekam dann Gewissensbisse, weil ich enttäuscht war. Wahrscheinlich kam es mir nur so vor, als würde er einen Bogen um mich machen, wo er in Wirklichkeit da draußen war, um uns zu beschützen. Außerdem: Woher sollte er wissen, dass ich ihn sehen wollte, wenn ich ihm ständig eine Abfuhr erteilt hatte?
Ich wanderte durchs Haus und langweilte mich schrecklich. Lucy war in der Bibliothek verschwunden. Asher und Lottie hatten sich zur Abwechslung mal aus dem Haus gewagt, und Erin schaute in ihrem Zimmer fern. Schließlich marschierte ich in die Küche, wo ich mich in der Speisekammer nach einem Snack umschaute. Ich schnappte mir einen Müsliriegel und knipste dann das Licht wieder aus. In der Dunkelheit kam mir eine Idee. Ich schloss die Tür hinter mir und vergewisserte mich, dass es auch wirklich zappenduster war. Dann wandte ich mich den Reihen von Dosen und Lebensmittelpackungen zu, die sich in den Regalen türmten und las die Etiketten: Baked Beans. Tomato Soup. Mushy Peas (igitt!). Ich machte das Licht wieder an und betrachtete das Angebot. Genau dieselben Etiketten hatte ich auch ohne Licht erkennen können. Ich konnte im Dunkeln lesen!
Was hatte Asher noch mal über seine Fähigkeiten gesagt? Als die Beschützer ihren Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn verloren hatten, hatten sich die anderen Sinne verstärkt. Sie konnten in der Dunkelheit sehen, besser hören als Menschen und waren zudem schneller und kräftiger. Abgesehen von meiner Geschwindigkeit und einer Extraportion Kraft hatte ich nie irgendwelche Beschützerfähigkeiten an den Tag gelegt. Und die Geschwindigkeit und Kraft hatten sich erst gezeigt, als ich mir bei Asher Energie raubte, nachdem Dean auf ihn geschossen hatte. Diese neue Gabe, in der Dunkelheit zu sehen, zeigte sich, nachdem ich dasselbe mit Seamus getan hatte. In meine Erregung mischte sich Angst, die meine Nerven entlang jagte. Wozu war ich denn noch imstande?
Ich verließ die Speisekammer und rannte in mein Zimmer, wo ich mir mein Handy schnappte und mich auf mein Bett plumpsen ließ. Beim zweiten Läuten hob Lucy ab.
»Hör mal, Lucy, ich möchte, dass du etwas in deinem Buch liest, nachdem ich aufgelegt habe, geht das?«
»Das habe ich schon vor deinem Anruf getan«, versetzte sie trocken.
»Schon, aber lies es laut vor. Ich teste da was. Na
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