Die Macht der Medusa
verlassen.«
Als ich die Wagentür öffnete, hörte ich in der Ferne ein dumpfes Grollen. Erste Ausläufe eines Gewitters, das zudem eine Dunkelheit mitbringen würde, die den Tag zur Nacht machen konnte. Die mächtigen Wolkenberge in der Ferne wiesen jedenfalls darauf hin. Wie unüberwindlich standen sie am Himmel, vom ersten Zucken eines fahlen Wetterleuchtens umspielt...
***
»Alina...?«
Keine Antwort.
Miranda richtete sich auf. Zu schnell, denn plötzlich fühlte sie sich benommen, und es war ihr, als hätte sie einen Schlag gegen den Kopf erhalten. Sie mußte sich abstützen. Dabei hatte sie den Arm durchgedrückt, und sie merkte auch das Zittern, das einfach nicht weichen wollte. Sie war noch immer sie selbst. Nur lag jetzt etwas hinter ihr, für das sie keine Erklärung wußte. Es war etwas mit ihr geschehen und hatte sie so mitgenommen.
Die Schwäche verging. Der Kopf war auch nicht mehr so schwer, und so konnte sie sich auf die Umgebung konzentrieren. Es hatte sich nichts verändert. Auch die Schatten, die sie kurz nach dem Wachwerden überfallen hatten, waren verschwunden. Der Schimmer vor ihren Augen wurden von unsichtbaren Händen weggewischt, und so sah sie endlich klarer.
Die Erinnerung kehrte zurück. Besonders gut, weil sie jetzt die Landschaft sah, an die sie sich erinnerte. Der weiche Boden, der dichte Bewuchs, der ihr Deckung gab. Die Bäume, deren Stämme von einem grünen, feuchten Film überzogen waren. Über ihr schwebten die dichten Kronen wie mächtige Pilze, durch die nur ab und zu schwaches Sonnenlicht schimmerte.
Die Luft hatte sich verändert. Sie war noch dichter und schwerer geworden, und die junge Frau spürte sie wie ein Gewicht. Sie hockte noch immer, als sie den Kopf anhob, ihn dann drehte und nach einer Lücke im Laub suchte, um einen Blick zum Himmel werfen zu können. Auch er hatte sich verdunkelt. Die Wolken Waren schwarze Gebilde und hatten sich schichtweise übereinander geschoben. In der Ferne hörte sie ein drohendes Grollen. Da kündigten sich bereits die Vorboten eines Gewitters an, das leicht zu einem Unwetter ausarten konnte.
Sie drehte sich weiter. Allerdings in eine Richtung, in der Alina nicht lag. So geriet die dicht bewachsene Uferregion in ihren Blickbereich, und sie sah auch wieder die Oberfläche des Wassers, die ihr jetzt wie ein dunkler, voller Rätsel steckender Spiegel vorkam, der vieles verbarg und nur wenig enthüllte.
Von Medusa sah Miranda nichts.
Die Gorgonin hatte sich wieder in die düstere Welt des Teichs zurückgezogen, und auch ihre Helfer, die Schlangen, waren nicht mehr zu sehen. Das dunkle Wasser hatte sie verschluckt.
Miranda stand auf und schaute an sich herab. Sie sah verändert aus. An einigen Stellen war ihre Kleidung zerrissen. Über die Gründe machte sie sich noch keine Gedanken. Das würde später kommen.
Miranda Ferris atmete wie jeder Mensch. Sie redete sich ein, okay zu sein, aber sie war es nicht. Zuerst glaubte sie, den Druck in Kehle und Brust ignorieren zu können, und sie dachte auch, es läge an der Schwüle, doch nach dem dritten Atemzug wußte sie Bescheid, daß es einzig und allein an ihr selbst lag und nur indirekt an den Umständen. Es lag an ihrem Körper. Er war innerlich so eng. Wie von einem strammen Etui umschlossen.
Sie stand, aber sie schaffte es nicht, normal ihren Rücken durchzudrücken. Der Druck an verschiedenen Stellen in ihrem Körper nahm zu. Er war kaum zu ertragen. Die Kehle, die Brust und die Magengegend wurden in Mitleidenschaft gezogen.
Miranda war keine dumme Frau. Sie hatte die letzte Zeit zwar nicht bewußt erlebt, weil sie zu lange weggetreten gewesen war, aber in dieser Spanne war etwas passiert, und für sie gab es nur einen Namen.
Medusa!
Trotz allem spürte sie keine negativen Gefühle. Sie sah sich als eine geteilte Person an. Einerseits hatte sie sich voll und ganz unter den Einfluß dieser Person gestellt, andererseits mußte sie Medusa auch mit allen Vor- und Nachteilen akzeptieren. Daraus resultierend ihre eigene Veränderung.
Wieder atmete und stöhnte sie zugleich. Es hörte sich fast an wie ein Zischen, als hätte sich irgendein Tier in ihrem Innern bemerkbar gemacht.
Wieder das Stöhnen.
Das war nicht Miranda. Eine andere Stimme, ein anderer Mensch hatte sich gemeldet. Der Name ihrer Freundin geisterte durch Miranda’s Kopf. An Alina hatte sie schon kurz nach dem Erwachen gedacht. Erst jetzt, als sie den Stöhnlaut vernommen hatte, kehrten die Erinnerungen wieder
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