Die Macht der Steine
besser als müßige Überlegungen.
Das Quietschen des Gitters riß ihn aus der Dunkelheit. »Du da drin, mach dich klein«, befahl eine Wache. Es war dunkel, und die Wache trug eine trübe elektrische Funzel. Ein großer Schatten fiel auf die Grube, streifte über seine Beine – er zog sie noch enger an – und stabilisierte sich schließlich.
Die Wache richtete die Lampe in die Grube, und Kahn sah, daß das Licht kurz über die Brust eines Mitgefangenen strich. Das Licht bewegte sich ein paar Zentimeter und verharrte dann. Die Wache atmete tief durch, knipste das Licht aus und ließ das Gitter wieder hinunterfahren.
Wo auch immer sein Mitgefangener sich befand, er hatte einen Kopf unter dem Arm, und der Kopf hatte ihm zugezwinkert.
Kahn verzichtete für den Rest der Nacht auf Schlaf oder Meditation. Die Morgendämmerung tauchte die Zelle in ein schwaches orangefarbenes Glühen und gab die Konturen der Gestalt preis.
Sie war humanoid, und sie hatte wirklich einen Kopf bei sich, aber die Augen des Kopfes waren geschlossen. Als das durch ein Oberlicht über der Zelle hereinströmende Glühen intensiver wurde, erkannte Kahn, daß es sich bei der großen Gestalt um einen Mann handelte, der schreckliche Verletzungen aufwies. Er war mit Pfeilen gespickt, von denen die meisten abgebrochen waren. Sein Hemd wies braune und grüne Flecken auf, in deren Mitte sich Einschußlöcher befanden. Sein freier Arm war anscheinend aufgeschlitzt worden.
Unter dem Hautlappen waren keine Muskeln, sondern glasige grüne Röhren und ein purpurner, schaumartiger Füllstoff. Unter dem Füllstoff befanden sich metallische Knochen. Die Gestalt war kein Mensch – sie war ein Stadt-Teil, ein Cyborg.
Kein Wunder, daß man ihn verdächtigt hatte, dachte Kahn. Die Cyborgs mußten überall sein.
»Hallo«, meinte Kahn. Der Cyborg schlug die Augen auf.
»Hallo.«
»Aus welcher Stadt?«
Der Cyborg ließ sich mit der Antwort Zeit. »Mandala«, entgegnete er schließlich. Die Stimme war tief und verblüffend menschlich.
»Ich komme aus Bruderschaft«, stellte Kahn sich vor. Der Cyborg nickte und musterte Kahns Kleidung und dann die Schuhe. Das Schuhwerk war bei der Suche nach Waffen ruiniert worden und schloß nicht mehr bündig mit den Hosenbeinen ab.
»Bist du ein Produkt von Bruderschaft?«
»Nein«, sagte Kahn. »Ich bin kein Stadt-Teil.«
»Dann bist du also ein Mensch.«
»Eigentlich auch nicht.« Es war schwierig, den Cyborg als nichtmenschlich zu begreifen; die Städte waren nie darauf programmiert worden, Menschen zu produzieren. In den Augen einiger Mandanten von Kahn wäre diese Fähigkeit nämlich Blasphemie gewesen. Aber Kahn vermutete, daß die Städte aufgrund ihrer Programmierung noch immer in der Lage waren, Cyborgs zu produzieren. »Ich bin der Architekt«, sagte er. »Mein Code lautet qellipoth. Das ist ein konkreter Begriff und keine abstrakte Bezeichnung.«
Durch den Cyborg fuhr ein Ruck, als ob man ihm einen Tritt versetzt hätte. »Ich bin Jeshua. Das ist Thinner.« Er hielt den Kopf hoch. »Architekt… ich bin…«
»Sei still«, sagte Kahn leise. »Ich habe Fragen…«
»Architekt, ich bin schockiert… gleich zweifach schockiert. Ich spüre die Kraft deiner Worte… aber ich habe auch die Kaballah studiert. Für lange Zeit, ein Jahrhundert, Architekt.« Jeshuas Augen füllten sich mit Tränen. Er streckte die Hand aus und berührte Kahns Fuß. »Bist du hier, um die Funken zu retten?« fragte er. »Ist die Zeit der Zusammenkunft gekommen?«
Der Cyborg hatte ein ausgesprochen menschliches Wesen. Er war erstaunlich autonom. Ein normaler Stadt-Teil hätte sich, nachdem er diesen Code vernommen hatte, bedingungslos seinem Befehl unterstellt. Und er kannte sogar die Kaballah! Kahn hatte sich nur kurz mit der Mystik befaßt, die unter der sporadischen Anleitung von George Pearson, dem Finanzminister von Gott-der- Schlachtenlenker, gelehrt wurde. Kahn hatte es als seine Pflicht erachtet, mehr über sein Erbe in Erfahrung zu bringen, denn seit einigen Jahrhunderten schon gehörte seine Familie dem jüdischen Glauben an.
»Ich weiß nichts von einer Zusammenkunft«, sagte er. »Ich bin kein Messias, und ich bin auch kein Kabbalist. Ich bin nur der Architekt.«
Jeshua sackte in sich zusammen, und die Augenlider senkten sich müde. »Ich spüre die Kraft«, wiederholte er. »Nur der Architekt kann diese Worte kennen. Aber ich weiß nicht, woher ich weiß… ich bin sehr verwirrt.«
»Ich habe alle Stadt-Teile mit
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