Die Macht der Steine
einem Betriebssystem versehen, lange bevor du produziert wurdest«, erklärte Kahn.
»Du warst ein Mensch. Wie konntest du überhaupt so lange leben?«
»Ich habe auch Fragen«, sagte Kahn. »Ich hoffe, du kannst sie beantworten, und ich will versuchen, deine zu beantworten. Aber zunächst müssen wir von hier verschwinden. Ich glaube nicht, daß ich von einer noch höher gestellten Person befragt werde.«
»Warum bist du denn im Gefängnis?«
»Sie halten mich für ein Stadt-Teil.«
Jeshua legte den Kopf in den Schoß. »Sie zerstören Städte und Stadt-Teile«, sagte er. »Sie sind Menschen.«
»Es gibt einen Ort, an dem die Menschen toleranter sind: die Expolis Ibreem. Wenn wir uns dorthin durchschlagen können…«
Jeshua streckte eine Hand aus, die mindestens anderthalbmal so groß war wie die von Kahn, und rüttelte an den Gitterstäben. »Sie sind zu dick, als daß ich sie umbiegen könnte. Außerdem bin ich beschädigt.« Er schaute auf Thinner hinab, dessen Augen noch immer geschlossen waren.
»Ist der Kopf lebendig?« fragte Kahn. Er fühlte sich wie ein Künstler, der einst ein naives Bild gemalt hatte und dem es im Laufe der Zeit immer surrealistischer vorkam.
»Ich glaube schon«, erwiderte Jeshua. »Thinner. Aufwachen. Mach die Augen auf.« Der Kopf tat wie geheißen. »Der Architekt ist bei uns.«
»Ich hab’s gehört«, meinte der Kopf heiser. »Jetzt weiß ich auch, warum du die Kaballah studierst. Er hat die Grundlagen gelegt. Laß mich ihn anschauen.« Jeshua wandte sich dem Kopf zu und hob ihn auf. »Willkommen, Architekt. Dein Erscheinen ist ein Mysterium für uns.«
»Dann sind wir uns ja einig. Du bist nämlich auch ein Mysterium für mich.«
»Jeshua, die Mauern sind aus Beton, und die Bolzen, mit denen die Stäbe verbunden sind, haben eine Länge von höchstens ein paar Zentimetern. Du kannst in deiner Verfassung keinen Ausbruch versuchen, aber vielleicht könntest du den Beton mit etwas Magensäure behandeln.«
Jeshua überlegte einen Augenblick und setzte den Kopf dann vorsichtig auf dem schmutzigen Boden ab. »Siff«, kommentierte Thinner. »Riecht hier wie in einer Kloake.«
Kahns Augen weiteten sich, als Jeshua seine schmutzige weiße Kutte abstreifte. Der Cyborg war komplett mit Genitalien, Körperbehaarung und Körperöffnungen ausgestattet. Jeshua berührte einige Stellen an seinem Bauch und zog eine Hautfalte zur Seite.
»Hast wohl Hunger«, ulkte Thinner.
Jeshua zog einen milchigen Beutel aus dem Unterleib. »Ich werde ihn aufschneiden müssen; er hat keine Öffnung.«
»Laß mich reinbeißen«, erbot Thinner sich. Jeshua führte den Kopf an den Beutel heran. Trotz seiner nicht vorhandenen Eingeweide verspürte Kahn ein seltsames Gefühl und wandte sich ab.
»Jetzt kann ich keine Nahrung mehr aufnehmen«, sagte Jeshua. »Wir müssen schnell Wiederauferstehung erreichen, uns von der Stadt beköstigen und reparieren lassen.« Fast betrübt meinte er: »Ich bin jetzt ein echtes Wrack, nicht wahr?«
»Du bist immer noch besser dran als ich«, konterte Thinner nach getaner Arbeit. »Wisch mir den Mund ab. Ich möchte kein Herpes bekommen.«
»Du verträgst sowohl menschliche Nahrung als auch die städtischen Flüssigkeiten?« fragte Kahn.
»Hat der Architekt bei unserer Konstruktion denn nicht auch an unser leibliches Wohl gedacht«, fragte Thinner. Mit den Händen formte Jeshua eine Schale und ließ eine klare, dampfende Flüssigkeit hineinströmen. Er bestrich die Betoneinfassungen der Bolzen mit dieser Essenz und tauchte dann die Hände in einen in der Ecke stehenden Wassereimer. Der Beton zischte und verwandelte sich in eine zähe gräuliche Masse. Das Gitter ächzte und senkte sich etwa einen Zentimeter.
»Ich wußte überhaupt nicht, daß die Städte auch solche Teile wie dich herstellen können«, gestand Kahn. »Meine Kreationen übertreffen meine kühnsten Erwartungen.«
»Der Architekt ist ein stolzer Vater«, bemerkte Thinner mit gedämpfter Stimme. Er war erneut auf den Mund gefallen. Jeshua versiegelte wieder die Bauchdecke. Kahn beugte sich hinunter und stellte den Kopf richtig hin.
»Gar nicht so stolz«, dementierte Kahn. »Wie wird die Säure sich auf deine Innereien auswirken?«
Jeshua lächelte. »Es tritt kaum etwas aus. Ich darf jetzt nur nicht ans Essen denken. Sollte mir auch nicht allzu schwer fallen – ich habe erst vor einigen Wochen wieder mit dem Verzehr von menschlicher Nahrung begonnen.«
»Können wir nun verschwinden?« fragte
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